Henry Kissinger und die Frage nach Erinnerung

Henry Kissinger: Kriegsverbrecher und Nobelpreisträger, Diplomat und Akademiker, hochverehrt und vielgehasst. Nun ist er tot. Wie geht man damit um, wie kann man damit umgehen? Wo ist die Grenze zwischen Kritik und Schadenfreude, Trauer und Verherrlichung? Was kann man sagen und was muss man sagen?

Von Henry Kissingers Tod erfuhr ich heute morgen auf dem Weg zur Schule. Unüblicherweise war es das Radio, eine eigentlich nichtexistente Nachrichtenform in meinem Leben, über das ich, diese eigentlich belanglose Nachricht erhielt. Ein sterbendes Medium berichtet über den Tod, eines der letzten Symbole einer ausgestorbenen Politik. Vollkommen irrelevant für mein Leben: Henry Kissingers Tod berührte mich weder emotional (mit Trauer oder auch Freude), noch wird sein Tod, irgendein Effekt auf etwas relevantes haben. Leute werden ihre Trauer ausdrücken, andere ihren Hass, vielleicht gibt es eine kleine mediale Diskussion, aber am Ende wird auch Henry Kissingers Tod nur eine kleine Randnotiz im andauernden Medienkreislauf sein. Warum bleibt mir das aber (zumindest kurz) im Kopf? Warum interessiert mich der Tod eines Politikers, der schon dreißig Jahre lang im Ruhestand war, als ich geboren wurde?

Ein Satz der Radiosendung bleibt mir im Gedächtnis: Der Gast, scheinbar nicht ganz sicher, wie man den Tod eines schlimmen Kriegsverbrechers, aber gleichzeitig respektierten Staatsmann diskutiert, sagt ein Sprichwort, dass ihm bei der Nachricht im Sinn gekommen sei: “Niemand ist so schlecht wie sein Ruf, niemand so gut wie sein Nachruf”. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie das Gespräch weiterging – ich musste aussteigen… Aber für mich schien er das gleiche Problem zu haben, was ich auch direkt spürte, wie viel Kritik kann man an einem frisch Verstorbenen üben? Wie sehr kann man das Böse eines Toten diskutieren, ohne, dass es wirkt, als bewerte man das Recht zum Leben? Deshalb dieser Satz denke ich: Er sagt so wenig, dass sich jeder seins denken kann, er sagt so viel, dass der Vorwurf einer einsichtigen Berichterstattung abgewendet werden kann. Er sagt also im Grunde gar nichts. Nur eins, dass Henry Kissinger im Tod, wie zu seinen Lebzeiten spaltet.

Nicht alle entschieden sich aber für diesen einfachen Weg: Einflussreiche Persönlichkeiten auf der ganzen Welt bekundeten ihre Trauer um den Tod des „wohl berühmtesten außenpolitischen Denker unsere Zeit“. Die Liste der „Trauernden“ ist lang und namhaft. Sie umfasst Staatsmänner und Frauen wie Macron, Scholz, Melonie, Nehtanyahu und sogar Putin. Vor allem fällt auf, welche Achtung Kissinger nicht nur im „Westen“, sondern auch in Russland und vor allem China genießt. Kissinger scheint der Punkt an dem westliche-Konservative, Populisten und Autokraten überschneiden.

Eine ganz andere Reaktion gab es allerdings aus anderen Ecken. Linke auf der ganzen Welt erinnerten an seine Taten und drückten ihre Freude über seinen Tod, oft sogar unverhohlen aus. Besonders in Südostasien und Südamerika, Regionen, in denen Kissinger durch seine Politik viel Leid anrichtete, hagelte es Kritik – auch aus Regierungskreisen. Daniel Jadue, ein bekannter chilenischer Politiker schrieb: „Another criminal who dies in total impunity,” (ein weiterer Krimineller, der in Straflosigkeit stirbt). Zudem nannte er Kissinger: „an instigator and accomplice of slaughters in Asia, Africa and Latin America” (einen Anstifter und Komplizen von Massenmorden in Asien, Afrika und Lateinamerika). Damit bezieht er sich auf den Putsch Allendes durch Pinochet, der Chile in eine jahrzehntelange Terrordiktatur einleitete. Kissinger spielte eine elementare Rolle in den Bemühungen der CIA, den kommunistischen, aber demokratisch gewählten Allende, durch den brutalen Militärgeneral Pinochet zu stürzen. Dies ist nur eines, der vielen Verbrechen Kissingers: In Asien verlängerte Kissinger aus politischem Kalkül den Vietnamkrieg (wofür er ironischerweise den Friedensnobelpreis bekam), was weitere hunderttausende Leben kosteten und das Land auf Jahrzehnte verwüstete, und bombardierte das neutrale Kambodscha mit über 500.000 Tonnen Sprengstoff. In Afrika prägt vor allem seine starke Beziehung mit Apartheid-Südafrika das Bild eines Menschen, den nur Macht und nicht Moral antreibt.

Kann man sich also darüber freuen, dass dieser Kriegsverbrecher tot ist? Ist es ‘ok’ sich zu freuen, dass ein schlimmer Mensch gestorben ist? Wer weiß… Wer bin ich über den Wert von Leben und Tod zu urteilen…

Was ich weiß, ist, dass es in diesem Fall keinen Grund zum Feiern geht. Egal ob man Kissinger trotz seiner Verbrechen als visionären Staatsmann und Diplomaten sieht oder in ihm die Ausgeburt des Teufels versteht, kann man nicht zufrieden sein, dass Kissinger tot ist. Denn auch wenn man ihn verachtet und stets den Tod gewünscht hat, kann man nicht zufrieden sein, wie das Ende des Paradoxon Henry Kissinger verlief: ungestraft, verehrt und betrauert. Anders als tausende Menschen weltweit, die aus den direkten Konsequenzen seiner Handlungen starben, lebte Kissinger ein langes Leben und starb friedlich. Anders als die Menschen, denen seine Politik ihr Leben beraubte, lebte Kissinger und hinterließ etwas. Anders als andere Kriegsverbrecher, starb Kissinger in Freiheit, Straflosigkeit und Ansehen. Das kann kein Anlass zur Freude sein, sondern ein Umstand zu trauern.

Vincent

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