Buchrezension: Herkunft

Das 2019 erschienene Buch „Herkunft“ von Saša Stanišić ist ein autobiographischer Roman, in dem sich der Autor vor dem Hintergrund der namensgebenden Thematik des Werkes mit seiner eigenen Lebensgeschichte auseinandersetzt und diese mit fiktiven Inhalten verbindet.

Im Mittelpunkt der Handlung steht der Autor des Buches, Saša Stanišić, der in verschiedenen Handlungssträngen auf für ihn prägende Phasen seines Lebens zurücksieht. Die wichtigsten Schauplätze sind seine bosnische Heimat und der Heidelberger Stadtteil Emmertsgrund. Er wurde 1978 in Višegrad, einer ehemals jugoslawischen Stadt im heutigen Bosnien und Herzegowina geboren und lebt dort bis zu seinem 14. Lebensjahr, ehe er in Folge des ausgebrochenen Jugoslawienkrieges 1992 mit seinen Eltern in die deutsche Stadt Heidelberg flieht. Der Protagonist berichtet von seinem Ankommen in Deutschland, seinem fortschreitenden Lebensweg und dem Dasein als migrantischer Jugendlicher in dieser Zeit, sowie der neuen Bedeutung seiner Herkunft für ihn und andere in einem fremden Land. Mit Blick auf sein zusammengefallenes Heimatland beschäftigt er sich umso mehr mit dem Sinn des Konzeptes Herkunft.

Des Weiteren erfährt der Leser von der Großmutter des Erzählers, Kristina Stanišić, die noch immer in Višegrad lebt und an Demenz erkrankt ist. Der Erzähler schildert sein Verhältnis zu seiner Großmutter und die gemeinsamen Erinnerungen, die sie beide und ihre durch den Krieg zersplitterte Familie verbinden. Auch der sich zuspitzende Gesundheitszustand Kristinas verleitet ihn dazu, sich genauer mit seiner Herkunft und Identität — vor allem im Bezug auf seine Familiengeschichte — auseinanderzusetzen. So nehmen neben Saša und seiner Großmutter auch andere nahe und entfernte Verwandte, insbesondere seine Eltern und Großeltern, einen Platz in der Handlung ein.

Bei der Betrachtung der Erzählweise in „Herkunft“ sind mehrere Aspekte besonders auffallend. Entgegen der Erwartung, die man an einen Roman mit autobiographischen Zügen stellen könnte, verläuft die erzählte Geschichte antichronologisch und es existieren mehrere, miteinander verbundene Handlungsstränge. Aus der Gegenwart heraus schildert der Erzähler Erfahrungen und Anekdoten aus seinem Leben, wie beispielsweise über seine Kindheit in Višegrad, sein Aufwachsen in Heidelberg oder auch Besuche seiner Verwandten (vor allem seine Großmutter) in Bosnien. Die Rolle Kristinas ist konträr zu der des Protagonisten. Während dieser versucht, offene Fragen über seine Identität aus dem Weg zu räumen, verliert sie allmählich ihre Erinnerungen.

Die Zeitsprünge in der Handlung, auch fragmentarisches Erzählen genannt, sind typisch für die Postmoderne Literatur und helfen dem Leser dabei, die Gedankengänge Stanišićs nachzuvollziehen und sich ebenso mit der Identitätssuche des Protagonisten auseinanderzusetzen. Eine weitere Auffälligkeit stellt der unfertige Charakter der Geschichte während des Lesens dar. So wird die nicht abgeschlossene Handlung und das Geschriebene noch im Buch vom Erzähler kommentiert und erklärt. In diesen Textpassagen gibt der „reale“ Stanišić unter anderem Auskunft über den Zustand seiner Großmutter, oder die Situation, in der er das Buch schreibt (S. 228). Dabei zeigt er die verschwimmenden Grenzen zwischen Realität und Fiktion auf, in dem ihm beispielsweise in einem fiktiven Dialog von seiner Großmutter erklärt wird, dass das zuvor Geschriebene vollkommen anders passiert sei. Diese Teilnahme am Schreibprozess ermöglicht es dem Leser ebenfalls, sich besser in Personen und Situationen

hinzuversetzen und so auch die Hauptthematik des Buches zu verstehen. Mindestens genauso wichtig für das Leseerlebnis ist der abschweifende Erzählstil. In den kurzen Kapiteln gibt es zumeist einen zentralen Aufhänger, von dem aus der Erzähler mit der Ausführung einer Geschichte beginnt, sich aber mit fortschreitender Länger von dem Ausgangspunkt entfernt und in vielen Details verfängt, wodurch die erzählte Handlung einen bildlicheren Charakter bekommt.

Dieser wird ebenso von der sehr ausdrucksstarken und effektvollen Sprache im Buch getragen, die auch ein typisches Merkmal der Gegenwartsliteratur ist. Er nutzt dafür immer einen Kern bestimmter Stilmittel. So finden immer wieder Personifikationen Anwendung, mit denen vor allem die Natur, darunter der Heimatfluss Drina und die bosnische Berglandschaft, beschrieben wird (S.6). Um die Handlung greifbarer zu machen, beschreibt der Erzähler Situationen und Orte oft mit denen von ihm verbundenen Gerüchen. Ein Tag in Heidelberg riecht dabei für ihn nach „Druckerschwärze und Marteks Haargel (Apfel)“ (S. 178). Ebenso verwendet er häufig Alliterationen (S. 234) und Zeugmata (S.246; „Bis zum Schluss ging er angeln und den Leuten zur Hand“), die das Lesen erleichtern und dem Geschriebenen ein besseres Klangbild verleihen.

Auf den letzten 60 Seiten des Buches findet sich wiederum eine neue Art des Erzählens wieder. Während der Leser auf den ersten 300 Seiten des Buches die Figuren und Geschichten kennenlernt und auch versteht, kriegt er hier die Möglichkeit interaktiv, ein individuelles Ende im Stile eines Spielbuches zu finden. Inhaltlich beschäftigt sich dieser Abschnitt mit dem Ableben der Großmutter und weist mehrere Alternativen auf, die Handlung zu beenden. So kann man einerseits die Geschichte im rationalen Stil zu Ende erzählen, oder andererseits einen neuen Weg wählen, der den Tod Kristinas mit einer Reise durch die südslawische Mythologie verbindet. Der Leser taucht zu Beginn in die Rolle des Protagonisten ein und handelt in dessen Namen. Er liest in der Regel einen Abschnitt und bekommt an dessen Ende bis zu vier Möglichkeiten (in Form von Seitenzahlen und Ausblicken) aufgezeigt, wie er die Geschichte für sich weitererzählen kann. Da es verschiedene mögliche Enden gibt, kann man individuell entscheiden, wann man aus der Handlung aussteigt,

Eine weitere, epochentypische sprachliche Auffälligkeit ist die Verwendung von Intertextualitäten, also die wörtliche Übernahme von Passagen aus anderen literarischen Werken. Besonders oft wird der romantische Dichter Joseph von Eichendorff zitiert, der für den Protagonisten einer der ersten Berührungspunkte zu Literatur in Deutschland darstellt und ihn dementsprechend prägt.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass viele sprachliche Besonderheiten in „Herkunft“ Anwendung finden, die die Zugehörigkeit zur Gegenwartsliteratur nachweisen. Diese ist auch bei Betrachtung des Themas nicht zu negieren, da es mit dem Infragestellen von etablierten Konzepten und Rollenbildern (in diesem Falle Herkunft, Nationalität und den damit verbundenen Erwartungen) Aspekte aufgreift, die in der postmodernen Gesellschaft von Bedeutung sind und auch aktuell im öffentlichen Diskurs stattfinden.

Auch aufgrund der Aktualität des Themas hat mir das Buch sehr gut gefallen, da gerade durch die Erfahrungsberichte in Bezug auf die Herkunftsfrage und die Konfrontation mit Ressentiments, denen sich der Erzähler ausgesetzt sieht, eine mir unbekannte Perspektive auf die Frage nach nationaler Zugehörigkeit eröffnet wurde, deren Blickwinkel ich bisher nicht einnehmen konnte. Vor allem aber die oben angesprochene Erzählweise, insbesondere die kunstvolle Verbindung und Ausgestaltung der Sprache (s.o.), hat für eine gute Lesbarkeit gesorgt und die Nachvollziehbarkeit der Thematik gesteigert.

Durch die kurzen Kapitel und Zeitsprünge fiel es leicht, sich auf die stattfindende Handlung zu konzentrieren und diese nachzuempfinden, wenn auch eben diese Wechsel des Handlungsortes dafür sorgen, dass man unter Umständen den Überblick über die Figuren (vor allem aus der Familie Stanišić und aus dem Freundeskreis in Heidelberg) verliert. Ähnlich verhält es sich bei dem Abschnitt im Spielbuch-Stil, bei dem das ständige Umblättern und Überlegen zwar die Spannung hochhält und die Neugier steigert, andererseits aber auch eine gewisse Unübersichtlichkeit hervorruft, da es durchaus passieren kann, dass man die richtige Seite verliert und nicht weiß, auf welcher man sich vorher befand.

Trotz dessen halte ich das Buch in jedem Fall für empfehlenswert, weil es, wie bereits erwähnt, viele aktuelle Themen aufgreift, die vermutlich bei vielen Leuten in der alttäglichen Betrachtung auf gar nicht mal so viel Aufmerksamkeit stoßen und einem so einen Perspektivwechsel ermöglichen.

Jasper, Klasse 12

Koboldt

Neuste Artikel