Wahlrecht ab 16 nicht haltbar! Eine Auswertung des Bürgerentscheids in Greifswald

Greifswald ist keine große Stadt und auch nicht besonders wichtig. Selbst im kleinen, unbedeutenden Mecklenburg-Vorpommern spielt Greifswald keine große Rolle, die wichtigen Sachen passieren in Schwerin und Rostock. Auch wenn es um Tourismus geht wird Greifswald vom nur eine halbe Autostunde entfernten Stralsund überschattet. Greifswald hat schlicht weg keine Strahlkraft. Sage ich Leuten im eigentlich gar nicht so weit entfernten Berlin, dass ich in Greifswald lebe, kommt oft die direkte Nachfrage, wo das denn lege. Das ist verständlich, wenn auch schade, denn diese Stadt in der nordöstlichsten Ecke der Republik ist spannender als man denkt. Aufgrund der großen Universität ist Greifswald eine der Jüngsten Städte in ganz Deutschland, was besonders im überalternden „Osten“ heraussticht. Auch deswegen ist Greifswald die einzige Stadt in Ostdeutschland mit einem grünen Oberbürgermeister, eine gegensätzliche Entwicklung zum Rest der „alten Bundesländer“ in denen seit einiger Zeit scheinbar nur die AfD Erfolge verkünden kann. Zudem ist Greifswald eine Forschungshochburg, zum Beispiel auf dem Feld der fusionsorientierten Plasmaphysik, in dem das Greifswalder IPP sogar international führend ist. Das sind alles interessante Sachen, trotzdem spielt Greifswald keine überregionale Rolle, was auch verständlich ist. Ab und zu richtet sich trotzdem das politische und gesellschaftliche Auge auf Greifswald. 

Dies geschah am Sonntag den 18.06.23 nun wieder. Auf Druck einer breiten Bürgerbewegung wurde ein Bürgerentscheid gehalten. Die Frage: Soll die Stadt Greifswald Flächen an den Landkreis verpachten um Containerdörfer zu errichten? Diese Frage wurde fälschlicherweise schnell zu der Frage, ob Greifswald (bzw. Deutschland insgesamt) Flüchtlinge aufnehmen soll, denn egal was der Ausgang dieses Bürgerentscheides ist, kommen die Flüchtlinge, aufgrund des „Königssteiner Schlüssel“, so oder so nach Greifswald. Einzig die Art der Unterbringung der Flüchtlinge ist Aufgabe der Stadt und steht so zur Debatte. Als es dann zur Auszählung der Stimmen am Sonntag Abend kam, wurde schnell klar, dass die Zahl der „Nein“-Stimmen überwiegte. Nach Gesamtauszählung stand fest, dass es mehr als 65% waren.  Dies war keine  Überraschung, was aber eine Überraschung war, ist, dass die erforderlichen 25% der Gesamtwahlberechtigten erreicht wurden, die benötigt werden, damit Bürgerentscheide bindend sind. Dies ist Etwas mit dem Viele im Vorfeld nicht gerechnet hatten, da der Entscheid an keine andere Wahl gekoppelt war. Mit einer Wahlbeteiligung von etwa 45%, reichte dies aber locker. Diese (für Bürgerentscheide) extrem hohe Wahlbeteiligung zeigt wie wichtig und umkämpft die Problematik Geflüchteter für die Greifswalder war. Aber nicht nur für diese, denn der Bürgerentscheid erregte in ganz Deutschland Aufmerksamkeit und diente als Signal der politischen Stimmung weit über Greifswald hinweg. Das war keineswegs eine Überraschung für die Beteiligten, die Initiatoren warben damit sogar während des „Wahlkamps“.

Ein eigentlich ziemlich irrelevanter Bürgerentscheid über die Unterbringung Geflüchteter in einer abgelegenen Provinz wurde also zur Grundsatzfrage der gesamten Flüchtlingspolitik Deutschlands.

Was man davon hält, welche Motivationen es gab und welche Folgen es haben wird, wurde bereits viel besprochen, als Schülerzeitung interessiert uns aber die Rolle der Schüler in all dem. Der Bürgerentscheid war eine der bedeutensten Wahlen auf kommunalem Niveau in Greifswald seit Jahren. Bis vor einem halben Jahr waren Kommunalwahlen die einzige Ebene in MV, in denen schon 16 Jährige wählen konnten. Wie also sah die politische Partizipation genau dieser Altersgruppe hier aus. Um das zu ermitteln haben wir eine Umfrage, zur Teilnahme am Bürgerentscheid, im elften und zwölften Jahrgang des Alexander-von-Humboldt-Gymnasium durchgeführt. Von den etwas unter 150 Schülern der Oberstufe nahmen über 100 teil, was zumindest eine gewisse Repräsentativität der Umfrageergebnisse erlaubt. Von den 103 Teilnehmenden waren 37 nicht wahlberechtigt, was entweder daran lag, dass diese nicht in Greifswald wohnten oder jünger als sechzehn waren. Von denen die allerdings wahlberechtigt waren, wählten auch die Meisten: rund 73% (Ja:Nein , 48:18). Die Wahlquote unser Schüler lag also rund 25% über dem Durchschnitt. Anders formuliert: die Wahrscheinlichkeit, dass man wählen war, war 50% höher, wenn man ein Schüler des Humboldtgymnasiums war.

Was können wir aber aus diesem Ergebnis schlussfolgern? Welche realen Begebenheiten spiegeln diese Zahlen wieder? Eines auf jeden Fall: Wir (Schüler) sind politisch interessiert und wollen auch gehört werden. Und diese politische Partizipation geht sogar deutlich über die anderer Altersgruppen hinaus. Ein gewisser Teil dieses deutlichen Unterschieds kann wahrscheinlich durch den Bildungsgrads erklärt, da Menschen mit höherem Schulabschluss generell mehr Wählen gehen. Aber selbst im Vergleich mit Wahlberechtigten, die die allgemeine Hochschulreife haben, kann sich die Wahlquote mehr als sehen lassen. 

Trotz dieser großen Bereitschaft wählen zu gehen, die, so kann man vermuten, mit einem großen politischen Interesse einhergeht, gibt es immer noch kein allgemeines Wahlrecht ab 16 und in vielen Bundesländern noch nicht mal eins auf Landes- und Kommunalebene. Dagegen soll einerseits das fehlende Interesse- und anderseits die fehlende Kompetenz der unter 18 jährigen sprechen. Ersteres kann eindeutig durch verschiedene Erhebungen und auch durch diese schulinterne Umfrage wiederlegt werden. Die Kompetenz, heißt Informiertheit der Wahlberechtigten über das (oder die) zu Wahl stehende, ist  schwerer zu quantifizieren. Es spricht allerdings einiges dafür, dass die der unter-16 Jährigen nicht unter dem Durchschnitt liegt, denn ein kausaler Zusammenhang von Interesse und Informiertheit besteht zweifelslos, was eine starke Korrelation nahelegt. 

Mir und vielen Anderen erscheint das Mindestwahlalter von 18 deshalb als willkürlich und so undemokratisch. Scheinbar ohne Grund, wird eine großen Gruppe ihrer politischen Entscheidungsfähigkeit und Macht beraubt. Wenn diese Gruppe auch noch die ist, die am Meisten von den heute getroffenen Entscheidungen betroffen ist, erscheint mir das inakzeptabel.

Vincent

Neuste Artikel