Das Deutsche Schulsystem – ein Interview mit Simone Oldenburg (1)

Die besinnliche Vorweihnachtszeit hat begonnen – Weihnachtslieder, Weihnachtsmarkt, Stollen und Plätzchen – so zumindest die Vorstellung. Die Realität besteht jedoch aus vielen Hausaufgaben, Leistungskontrollen und Klausuren. Das verursacht bei vielen Schülern Stress. Um herauszufinden wie die Parteien zu möglichen – unserer Meinung nach wichtigen – Veränderungen im Schulsystem stehen, haben wir alle großen deutschen Parteien angeschrieben und gebeten unsere Fragen zu beantworten. Simone Oldenburg, die Bildungsministerin Mecklenburg-Vorpommerns und Mitglied der LINKEN , das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN MV, und die CDU haben uns bereits geantwortet. Von der SPD, der FDP, dem BSW und der AFD erwarten wir noch die Beantwortung.

Dieser Artikel enthält teilweise die Meinung der Autoren und des Interviewten, in diesem Fall Simone Oldenburg, Landesministerin für Bildung und Kindertagesförderung von Mecklenburg Vorpommern, stellvertretende Ministerpräsidentin und seit neuestem auch Präsidentin der Bildungsministerkonferenz. Wir möchten uns im Voraus für die Beantwortung der Fragen bedanken und freuen uns diese mit den Antworten der anderen Parteien vergleichen zu können.


Einige unserer Lehrer beschweren sich, dass die Rahmenpläne meist sehr voll sind und Themen im Unterricht oft nur kurz und unzureichend behandelt werden können. Sollten die Rahmenpläne ihrer Meinung nach verkürzt und auf das Wesentliche reduziert werden? 

Wir überarbeiten Schritt für Schritt unsere Rahmenpläne. Das ist notwendig, weil es heute nicht mehr darum geht, Fakten auswendig zu lernen, sondern Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, sich Wissen anzueignen und Zusammenhänge zu verstehen. Diese Kompetenzen gilt es, im Unterricht zu vermitteln. Wir sprechen dabei auch vom kompetenzorientierten Lernen. Wenn Schülerinnen und Schüler diese Fähigkeiten beherrschen, sind sie in der Lage, die Abschlussprüfungen zu bestehen, weil es in diesen Prüfungen genau darum geht. Rahmenpläne zu kürzen ist nicht möglich, weil sich die Bundesländer untereinander absprechen. Ziel ist es, dass die Abschlussprüfungen gleichwertig sind. Außerdem geben Rahmenpläne einen Rahmen vor. Das heißt, die Inhalte, die dort genannt sind, füllen 80 Prozent der Unterrichtszeit. Bei den übrigen 20 Prozent sind die Lehrkräfte in der Gestaltung frei. Niemand verlangt, dass jedes Thema in aller Ausführlichkeit behandelt wird.

Wie sinnvoll ist der wachsende Einfluss von ständigem Leistungs- bzw. Notendruck auf das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler?

Leistungskontrollen und Noten sind wichtig. Im Schulgesetz ist vorgesehen, dass Leistungen von Schülerinnen und Schülern durch Noten und Punkte bewertet werden, um eine vergleichbare und gerechte Grundlage für die spätere Ausbildung oder das Studium zu schaffen. In der neuen Leistungsbewertungsverordnung haben wir landesweit einheitliche Vorgaben für die Bewertung von Schülerleistungen gemacht. Dort ist festgelegt, wie viele Klassenarbeiten mindestens geschrieben werden und wie viele Noten es mindestens geben soll. In der Abiturprüfungsverordnung ist festgeschrieben, wie viele Klausuren in der Oberstufe geschrieben werden und wie die Leistungsermittlung erfolgt. Auch hier halten wir uns an die Vorgaben der Kultusministerkonferenz. Die Schulen sind angehalten, Leistungserhebungen gleichmäßig zu verteilen und darauf zu achten, dass die Schülerinnen und Schüler durch Übungs- und Förderphasen darauf vorbereitet werden. Sollte doch einmal der Eindruck entstehen, dass zu viele Klassenarbeiten geschrieben werden und Tests gemacht werden müssen, können sich Schülerinnen und Schüler an die Vertrauenslehrerin oder den Vertrauenslehrer wenden. Das Gleiche gilt, wenn sich Schülerinnen und Schüler überfordert fühlen. Viele Schulen machen dazu auch Beratungsangebote. 

Was halten sie von einem Verbot von Hausaufgaben. Einige Lehrer verlagern Teile ihres Unterrichts in die Wohnzimmer der Schüler. Dazu kommt, dass Schüler mit einem vollen Stundenplan ohnehin schon wenig Freizeit haben. Wenn sie zusätzlich noch lernen müssen bleibt häufig kein Freizeitausgleich zur Schule. 

Von einer pauschalen Abschaffung der Hausaufgaben halte ich gar nichts, auch wenn das Schülerinnen und Schüler sicher nicht gerne hören. Hausaufgaben sind als wertvolle Lern- und Übungszeit eine wichtige Ergänzung des Unterrichts. Sie fördern die Selbstständigkeit und stärken das Erlernen von Arbeitstechniken. Außerdem bieten sie die Chance, das Gelernte in der Schule zu Hause zu wiederholen und das Wissen damit zu festigen. Hausaufgaben sollten den Unterricht nicht ersetzen und sie dürfen auch nicht unverhältnismäßig viel Zeit in Anspruch nehmen. Schülerinnen und Schüler brauchen nach der Schule ausreichend Zeit für sich, für Freunde und für die Familie.  

Viele Schüler vergessen den Unterrichtsstoff, den sie für eine Leistungsüberprüfung lernen, meist direkt danach wieder. Das “Bulimie-Lernen” ist häufig unumgänglich, da bei den vielen Fächern oft keine Zeit vorhanden ist, um sich umfassend mit den gelernten Inhalten zu beschäftigen und diese langfristig zu verinnerlichen. Ist das jetzige System der Leistungsüberprüfung dementsprechend überhaupt noch sinnvoll? Sollten Schüler beispielsweise vielmehr über eine längere Zeit durch Unterrichtsergebnisse und Mitarbeit bewertet werden?

Vielleicht gibt es einige Schülerinnen und Schüler, die den Stoff nur für die Klassenarbeit oder den Test lernen und dann wieder vergessen. Es ist aber auch nicht möglich, alles zu behalten. An den Leistungskontrollen kommen wir nicht vorbei. Sie sollen jedoch von den Schulen angemessen über das Schuljahr verteilt werden. Auch das sieht die Leistungsbewertungsverordnung vor. An einem Tag darf nur eine Klassenarbeit geschrieben und in einer Woche dürfen nicht mehr als zwei Klassenarbeiten geschrieben werden. An einem Unterrichtstag dürfen höchstens zwei schriftliche Lernerfolgskontrollen abverlangt werden, wobei an Tagen, an denen eine Klassenarbeit geschrieben wird, keine schriftlichen Lernerfolgskontrollen erfolgen sollen. Schulen können auch auf kontinuierliche Lernfortschritte setzen, zum Beispiel durch Projektarbeiten, Präsentationen oder eine vertiefte Mitarbeit im Unterricht. Solche Methoden können       dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler den Stoff besser verstehen und das sogenannte Bulimie-Lernen vorbeugen.

Es gibt Sport-, Musik- und Kunstbegabte Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorkenntnissen. Schülerinnen und Schüler ohne entsprechende Vorkenntnisse haben selbst mit viel Leistungsbereitschaft keine Möglichkeit sehr gute Noten zu erzielen. Ist es somit ratsam alle Schüler nach einer einheitlichen Bewertungsskala in Kunst und Sport zu bewerten? Jetzt schon bewerten manche Lehrer soweit wie möglich die Verbesserung der Leistung der Schülerinnen und Schüler. Meistens muss jedoch nach einer strikten Bewertungstabelle bewertet werden. Gibt es da die Möglichkeit das Engagement der Lehrer in dem Bereich in eine Änderung der Bewertungsmethoden zu erweitern?

Jede Schülerin und jeder Schüler hat Talente und besondere Fähigkeiten. Es gibt niemanden, der keine Stärken hat. Es gibt aber auch nur wenige Menschen, die in wirklich allen Bereichen sehr gut sind. Einheitliche Bewertungskriterien sind wichtig, um einen Vergleich herstellen zu können. Lehrkräfte haben dabei einen Ermessensspielraum. Sie sind Pädagoginnen und Pädagogen und damit in der Lage, die individuelle Entwicklung von Schülerinnen und Schülern zu berücksichtigen und mit in die Bewertung einfließen zu lassen. Es ist ein Kompliment an die Lehrkräfte, dass genau das von Schülerinnen und Schülern als Engagement der Lehrkräfte wahrgenommen wird. Genau dieses pädagogische Ermessen kommt in Fächern wie Kunst und Gestaltung und Sport zum Tragen, wo es nicht um kognitive Leistungen, sondern auf gestalterische und körperliche Fähigkeiten ankommt. 

Wir haben jetzt schon häufig zu Ohren bekommen, dass den Schulen Fördermittel zur Sanierung oder auch zum Kauf von Unterrichtsmaterialien fehlen. Warum befindet sich die Bildung der jungen Menschen nicht an einer höheren Stelle, auch da Sie dafür verantwortlich sein werden, die Renten des immer größer werdenden älteren Bevölkerungsanteils zu decken, zuständig ist?

Nicht für alle Bereiche bin ich als Bildungsministerin zuständig. Für die Anschaffung von Unterrichtsmaterialien sind die Städte, Gemeinden und Landkreise als Schulträger verantwortlich. Gleiches gilt für die Schulgebäude, ihren baulichen Zustand und ihre technische Ausstattung. Beim Schulbau hat die Landesregierung die Schulträger in den vergangenen Jahren mit umfangreichen Förderprogrammen unterstützt. Seit 2016 wurden damit mehr als 500 Schulbauvorhaben, Neubauten oder Sanierungen in einem Umfang von insgesamt rund 800 Millionen Euro umgesetzt bzw. sollen noch umgesetzt werden. Im vergangenen Herbst hat sich die Landesregierung mit den Vertreterinnen und Vertretern der Gemeinden, Städte und Landkreise darauf verständigt, Mittel für den Schulbau nicht mehr über Förderprogramme, sondern über den kommunalen Finanzausgleich zu fördern. Das sind Mittel, die die Gemeinden, Städte und Landkreise vom Land für ihre Aufgaben erhalten. Auch die Gemeinden, Städte und Landkreise selbst engagieren sich beim Schulbau. Das führt dazu, dass über diese neue Regelung insgesamt 400 Millionen Euro zusätzlich für moderne Schulgebäude zur Verfügung stehen. Das ist eine große Summe, die investiert werden kann. Doch Bauprojekte brauchen Zeit. Sie können nicht von heute auf morgen umgesetzt werden.

Wo sehen Sie noch Verbesserungsbedarf im Schulsystem? Haben wir möglicherweise eine Problemstellung nicht thematisiert, welche Sie jedoch als besonders wichtig erachten? 

In meiner Amtszeit haben wir bereits sehr viele Vorhaben auf den Weg gebracht. Ich denke hier beispielsweise an die neuen Stundentafeln, mit der wir die Kernfächer Deutsch, Mathematik und Englisch stärken – auch am Gymnasium. Dies halte ich für besonders wichtig, weil Lesen, Schreiben und Rechnen die Kernkompetenzen sind und eine Voraussetzung für den Erfolg. Die neuen Stundentafeln sollen mit Beginn des Schuljahres 2025/2026 verbindlich umgesetzt werden. Mit einem neuen Konzept für die Berufliche Orientierung wollen wir erreichen, dass Schülerinnen und Schüler noch gezielter ihren Beruf finden, der am besten ihren Neigungen und Stärken entspricht. Dazu gehört auch ein Leitfaden zum Schülerbetriebspraktikum, eine Handreichung für die Gründung und den Betrieb von Schülerfirmen. Außerdem haben wir einen Modellversuch für eine Erste-Hilfe-Ausbildung an Schulen aufgelegt und ein Schwimmkonzept verabschiedet, damit Schülerinnen und Schüler die Grundschule als sichere Schwimmerinnen und Schwimmer verlassen. All diese Konzepte und Regelungen gilt es, mit Leben zu füllen. 

Uns ist bewusst, dass diese ganzen Probleme, wenn überhaupt, nicht einfach lösbar sind. Welche Möglichkeiten stehen Ihnen jedoch zur Verfügung diese anzugehen? 

Als Bildungsministerin habe ich eine große Gestaltungsmöglichkeit und setze mich gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bildungsministerium, in den Staatlichen Schulen und den Beschäftigten an den Schulen für Verbesserungen im Bildungssystem ein. Aktuell arbeiten wir an einer Änderung des Schulgesetzes. Zu den zentralen Änderungen zählen die Sicherung des Schulnetzes, die Regelungen zur Schullaufbahnempfehlung, die Stärkung der Mitwirkungsrechte und die Regelungen zur Finanzhilfe für Schulen in freier Trägerschaft. Außerdem sollen im Schulgesetz erstmals Organisationsformen des Lernens geregelt werden. Der Entwurf für eine Änderung des Schulgesetzes befindet sich im parlamentarischen Verfahren und wird im Landtag diskutiert. Geplant ist, dass die Änderungen zum Schuljahr 2025/2026 in Kraft treten. 

Welche Lösungsansätze planen Sie konkret umzusetzen und in welchem Zeitrahmen soll dies geschehen?

Mit dem neuen Schulgesetz wollen wir auch die Digitale Landesschule auf rechtliche Grundpfeiler stellen und Ziele der Digitalisierungsstrategie verankern. Mit der Digitalen Landesschule sind wir bundesweit Vorreiter. Nach und nach weiten wir die Angebote aus. Neu ist der Vertretungsunterricht in den Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch für die Jahrgangsstufen 9 bis 12 nach einem festen Stundenplan. Bei diesem Videounterricht können sich Schülerinnen und Schüler direkt mit der Lehrkraft austauschen. Außerdem haben wir die Trainingsangebote zur Prüfungsvorbereitung ausgebaut. Die Digitale Landesschule soll kein Ersatz für den Präsenzunterricht sein. Aber die Angebote können in Zeiten eines bundesweiten Lehrkräftemangels dabei helfen, den Ausfall von Unterricht an unseren Schulen zu vermeiden.

Und zum Schluss noch eine offene Frage: Wollen Sie uns Schülern noch etwas mit auf den Weg zum Schulabschluss geben?

Strengt euch an, wir helfen euch dabei, denn wir brauchen euch.

Autoren: Bjarne Kischko, Pavel Tzvetkov

Pavel Tzvetkov

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