Rennen.

Rennen. Mehr fällt mir momentan nicht ein. Ich setze einen Fuß nach dem anderen, Tränen laufen über mein Gesicht und die Schreie im Hintergrund werden leiser. Meine Beine wissen selber nicht wohin sie laufen sollen und mein Kopf explodiert gleich. Es ist nicht das erste Mal, dass jemand durch meine Hand stirbt und es wird auch leider nicht das letzte Mal sein. 

Du wirst mich nicht unter Kontrolle halten können, das weißt du hoffentlich oder? 

„Ich habe es leid als dein Handlanger zu arbeiten. Zwar bin ich eine unglaublich pessimistische Person, aber um dich aufhalten zu können, schaffe sogar ich es optimistisch zu bleiben und dir dein Leben zur Hölle zu machen.“, flüstere ich vor mich hin. 

Dann fang mich, wenn du kannst Annie. 

Und plötzlich ist die Stimme weg. Immer wieder das Gleiche: Es übernimmt meinen Körper, bringt mich dazu zu töten, beseitigt die Beweise und lässt mich traumatisiert am Tatort zurück. Ein Prozess, welcher seit meinem 18. Lebensjahr jeden Monat aufs Neue geschieht. Ich kann nicht sagen was es ist, dass über mich und meine Gefühle Besitz ergreift. Für mich ist es eine innere Stimme, welche mir nicht einmal vertraut vorkommt. Es kennt meinen Namen und kann meine Persönlichkeit perfekt nachahmen, ohne dass es jemand mitbekommen würde. 

Ich laufe durch eine enge Straßengasse. Ein schallendes Geräusch lässt mich plötzlich umdrehen. Ich muss sichergehen, dass mir niemand gefolgt ist. 

Nichts ist zu sehen, nur ein paar überfüllte Container mit unbrauchbaren Rohstoffen. 

Noch drehe ich mich nicht um, sondern gehe einige Schritte rückwärts. Ein Schritt, noch einen und ich drehe mich um, damit ich endlich meine Wohnung erreichen kann. 

Mit zitternden Händen ziehe ich meine Schlüssel hervor und versuche die Kellertür meines Hauses zu öffnen, doch jemand nimmt es mir ab und ich stolpere über die letzte Stufe durch die Tür. Ich finde im letzten Moment an der Türklinke halt und schaffe es trotzdem aufrecht stehen zu bleiben ohne mich komplett zu blamieren. Vor mir steht eine männliche Figur, mehr erkennen will und tu ich auch nicht. Ich dränge mich durch den Eingang und stürme die Treppen hoch. Ich erreiche meine Wohnung im dritten Stock des Hauses, schließe sie auf und verriegle sie darauf gleich wieder. Meine Kleidung ist mit Blut beschmiert, überall findet man kleine Flecken. Auf meiner Hose, auf dem Pulli, im Gesicht. 

Warum all diese Menschen sterben mussten, kann ich nicht erklären. Ich kenne nicht mal ihre Identität und habe kein einziges Wort mit ihnen gewechselt. Das Einzige was ich mir jedes Mal merke, ist ihr Aussehen und vor allem besondere Merkmale im Gesicht oder am Körper. Nach jedem Mord notiere ich mir dies, um Hinweise auf die Identität und vielleicht sogar ein Motiv des Unbekannten zu finden. Unterlagen wie Ausweise, Pässe oder andere Papiere, die die Identität des Opfers preisgeben, werden meist durch mein zweites Ich vernichtet. Wenn ich Glück habe, finde ich noch Fotos oder andere Dinge, welche mir helfen, eine richtige Spur zu finden. Ich platziere mein Buch jedes Mal innerhalb des Kissenbezugs auf meinem Bett und drehe dieses dann um. 

Eigentlich ist es unnötig dieses Buch zu verstecken, da niemand mich besuchen kommt und ich mehr oder weniger keine Freunde besitze. Seit diese Mordreihe begonnen hat, habe ich jeglichen Kontakt zu Freunden abgebrochen oder wie bei meiner Familie eingegrenzt. 

Ich fasse in den Bezug meines Kopfkissens hinein und will nach dem Notizbuch greifen – es ist nicht da. Das zweite Kopfkissen in meinem Bett ist leer genauso wie der Bezug meiner Bettdecke. 

Panik breitet sich aus und ich beginne zu schwitzen. Meine Hände zittern, ich drehe jedes einzelne Möbelstück um und trotzdem finde ich dieses dämliche Buch nicht. 

Du suchst das Notizbuch mit den Merkmalen der Opfer, nicht wahr? 

„Wie bitte?“, frage ich verwundert. Denn die Stimme redete nur immer dann mit mir, wenn der Mord vollbracht worden ist. 

Das Notizbuch, es ist weg und nun in meiner Obhut. 

„Der Mann, auf den ich vor ungefähr zehn Minuten unten am Kellereingang gestoßen bin, warst du, nicht wahr?“. Ich wusste, etwas stimmt nicht. 

Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. 

„Du machst mir mein Leben zur Hölle und gibst mir nicht mal einen Ansatz, wie ich dich fangen kann. Das ist nicht fair.“

Dann fang mich, wenn du kannst, Annie. 

Das gottverdammte Notizbuch. Wieso habe ich es doch so auffällig versteckt? Panik breitet sich in mir aus und das Atmen fällt mir immer schwerer. 

Das kann nicht sein, es darf nicht wahr sein. Ich habe keinen Anhaltspunkt, gar keinen mehr. 

Nichts was mir helfen könnte, dass dieses schlimme Etwas zur Rechenschaft gezogen wird. Was mache ich jetzt? Es wird immer weitergehen. 

Am besten sollte ich jetzt nicht in Panik ausbrechen, sondern ruhig bleiben und bei null anfangen. 

Nein, niemals werde ich das können. 

Immer wieder laufe ich hin und her durch mein Zimmer, meine Hände voller Schweiß und mein Atem stockend. Plötzlich trete ich auf etwas Spitzes und schreie kurz vor Schreck auf. Ein goldener Ring mit einem Stein obendrauf. Ich kann nicht ganz identifizieren was für ein Edelstein es ist, aber vermutlich sollte ich damit zu einem Schmuckhersteller gehen. 

Einen Moment mal. Woher kommt dieser Ring überhaupt? Weder habe ich dieses Exemplar in meinem Leben je gesehen noch getragen. 

Ich laufe raus, muss wissen wo dieser Ring herkommt. Und so laufe ich und laufe ich und laufe ich. Ohne den Überblick über den Verkehr zu verlieren, sprinte ich durch enge Gassen und hetze über Straßen. Ein Fuß nach dem anderen. 

Endlich erblicke ich den Schmuckladen, welchen ich seit Minuten suche. Mr. Michaels weiß so gut wie alles, egal ob es sich um Edelsteine handelt oder Metalle. Dieser Mann ist genial. Also betrete ich den Laden, und das kleine Glöckchen am Türrahmen klingelt. Normalerweise taucht Mr. Michaels sofort auf, aber er erscheint nicht am Thresen. 

„Mr. Michaels? Sind sie hier?“, frage ich etwas laut. Keine Antwort. 

„Hallo Mr. Michaels, hier ist Annie! Ich hätte eine Frage zu einem Ring, welchen ich heute gefunden habe und vermute, sie könnten mir dabei helfen.“. 

Immer wieder streife ich durch den kleinen Laden, in der Hoffnung Mr. Michaels zu finden. Langsam begebe ich mich in den Hinterraum des Geschäfts und versuche nochmal nach Mr. Michaels zu rufen, doch meine Worte verwandeln sich in einen Schrei. 

Mr. Michaels Körper. Auf dem Boden. Ohne Kopf. Blut. Überall. Schon wieder. 

Nur ein lebloser, männlicher Körper am Grund ohne Kopf. 

Verdammt. 

Panik breitet sich in mir aus. Überall.

Meine Beine zittern. Ich muss hier weg. 

Nein, ich muss wen alarmieren. Kann ich das überhaupt? 

Wenn ich jemanden hole, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man mich verdächtigt. Dazu kommen noch die weiteren Morde, welche durch meine Hand getätigt worden sind. Werden sie wissen, dass ich hinter all dem stecke? 

Ich mache mich verdächtig, aber ich muss es doch für Mr. Michaels tun. Er war immer gut zu mir, half mir so gut es ging und war immer ein guter Gesprächspartner. 

Ich rufe die Polizei. Jetzt. Sofort. 

Polizei gerufen? 

Ja. 

Ist sie auf dem Weg? 

Ja. 

Sollte ich verschwinden? 

Ja. 

Werde ich verschwinden? 

Nein, ich kann es nicht mehr. Ich werde festgehalten. Ich kann nur trampeln, aber es bringt nichts. 

Gar nichts. 

Schreien kann ich genauso wenig. Eine Hand vor meinem Mund verweigert es mir.

Weltenschreiber

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