Manchmal hat man Träume, nach denen man aufwacht und für eine Sekunde nicht genau weiß, ob es sich um die Wirklichkeit oder einen Traum handelt. So ähnlich fühlt es sich an, seit ich aus meinem Auslandsjahr in Indien wieder zurückgekehrt bin. Alles ist so surreal, dass es eine Produktion meines Unterbewusstseins sein könnte und gleichzeitig sind noch viele Erinnerungen so deutlich, als wären sie gestern gewesen.
Doch wie kam es eigentlich überhaupt erst dazu, dass ich mich entschloss für ein Jahr nach Indien zu gehen? Ich wollte weg, weit weg und erst einmal etwas erleben, wo ich doch endlich aus der Schule raus war. Ich wollte mein Englisch oder mein Spanisch verbessern und einen möglichst starken kulturellen Unterschied zu Deutschland haben. Dafür war Indien definitiv geeignet.
Schon nach den ersten zwei Stunden in Bengaluru, der Stadt in der ich meinen Freiwilligendienst verbrachte, war ich vollkommen überfordert und am Rande der Verzweiflung. Man mag meinen, dass meine Überforderung an vielen Dingen gelegen hat, doch eigentlich war es am Ende nur der Verkehr, denn für mich als Kind aus einer Kleinstadt, war der indischen Verkehr außerhalb meiner Vorstellungskraft. Um mich daran zu gewöhnen, brauchte ich wohl am längsten. Alles andere war ja auch gar nicht so schwer. Das Essen ist hervorragend, die Kleidung mit ihren vielen Farben genau mein Stil und die Menschen sind einfach herzlich. Ich selber habe die Deutschen nie als wirklich kaltes Volk empfunden, aber wenn man einmal in Indien gewesen ist merkt man doch einen leichten Unterschied. In Indien wird man fast immer beschenkt, wenn man irgendwo eingeladen ist, wohingegen man in Deutschland selten die Leute beschenkt, die einen besuchen kommen.


Es hat trotzdem fast vier Monate gedauert, bis ich mich wirklich angekommen fühlte und dann waren plötzlich die Sommerferien und rissen mich wieder aus meiner Komfortzone. Oder anders gesagt: Ich riss mich in den Sommerferien ganz freiwillig aus meiner Komfortzone um Indien zu bereisen. In meinem letzten Blogbeitrag über meine Reise im Juni 2024 beschrieb ich meine Zeit in Zügen durch dieses wunderbare Land ganz gut:
Zwei Monate umrandete ich Indien. Ich legte 7493 Kilometer zurück (8.6 Mal vom Norden in den Süden Deutschlands) und verbrachte dafür 6 Tage, 2 Stunden und 17 Minuten in Bussen und Zügen.
Ich stand frierend im Himalaya und lag schwitzend bei 44 Grad in den Städten Rajasthans.
Ich erlebte Regen, sah Schnee und ganz viel Sonne.
Ich badete in der Arabischen See und im Golf von Bengalen
War an der Ost- und der Westküste
Im Norden und im Süden.
Ich habe italienisch gegessen deutsch, israelisch, französisch, britisch, chinesisch, thailändisch und natürlich nord- und südindisch.
Ich habe so viel gesehen und doch längst nicht alles, aber gerade jetzt in diesem Augenblick fühle ich mich reich: Reich an Erlebnissen, Erfahrungen und Erinnerungen in allen Farben.




Als die Schule dann wieder los ging sollte ich plötzlich unterrichten, und zwar Altflöte und Musik in der achten Klasse, Origami in der ersten, Sopranflöte bei den Lehrer*innen und Stimme und Theater in der vierten Klasse. Anfangs fragte ich mich viel, was ich den Kindern denn geben könnte in meinem Freiwilligenjahr. Woran hätten sie Spaß und wobei könnten sie etwas lernen. Mir vielen Dinge wie Akrobatik, Theater, Origami, oder Kreistänze ein (die hatten wir auf unserem Vorbereitungsseminar gelernt), aber nie hätte ich erwartet, dass ich einmal Flöten unterrichten würde, die ich selbst nie gelernt hatte, mir aber schneller beibringen konnte, als viele der Lehrer*innen. Meine größten Herausforderungen waren wohl die erste und die achte Klasse. Die erste, weil es verdammt schwierig ist, dreißig Kinder dazu zu bringen einem zuzuhören und die achte, weil sie in Musik nicht viel schlechter war als ich. Am Ende war es so, dass ich die Achtklässler nur forderte, wenn ich auch mich selbst forderte. Wenn ich sie dreistimmig singen ließ und dabei Einsätze geben musste, oder jede*r Schüler*in eine eigene Kananostimme sang. Meine eigene Erfahrung im Schulchor war mir dabei eine große Hilfe.
Und jetzt wo ich wieder zu Hause bin, denke ich jedes Mal, wenn ich im Chor singe, an meine Achtklässler, jedes Mal wenn ich bestimmte Theaterübungen mache, an meine Viertklässler und ständig durch Gerüche, Geräusche oder Bilder an all das andere, was ich erlebt habe.
Wem ist zum Beispiel schon einmal aufgefallen, dass die Parvati-Schwestern in Harry Potter, bei dem Winterball in Teil vier indische Kleidung und indischen Schmuck tragen? Diese Tracht nennt sich Lehenga und besteht aus einem Rock, irgendeiner dazu passenden Bluse und einen langen Tuch, dass man sich über eine Schulter legt. Die meisten Lehengas sind allerdings deutlich pompöser.


Was soll ich sagen? Es ist schwierig Erfahrungen und Erlebnisse eines ganzen Jahres übersichtlich in Worten zusammen zu fassen, doch das Wichtigste ist, dass ich diese ganz sicher ein Leben lang in mir tragen werde und wer weiß, wofür das am Ende gut ist.
Meine Generation – die Jugendlichen der Gegenwart – wir haben die Möglichkeit und die Zeit nach der Schule erst einmal eine Auszeit zu nehmen, Erfahrungen zu sammeln und fremde Länder zu sehen. Das Studium oder die Ausbildung kann warten. Nicht für immer, aber definitiv für ein Jahr und ich empfehle jedem einzelnen diese Möglichkeit zu nutzen, denn ein ganzes Jahr frei zu nehmen: das ist im Berufsleben längst nicht mehr so einfach.
Adele Mesing