Collaps – Wenn zwei Welten sich treffen – Eine Erzählung

Vor-Prolog

(Taubenweg 3, Im Haus der Winters klingelt das Telefon, Adele hebt ab)

ADELE: Hallo?
SILKE: Hallo Adele!
ADELE: Oh hallo Silke, mensch das ist ja schön mal wieder von dir zu hören. Du hast ja lange nicht mehr angerufen. Wie geht es dir und deiner Familie?
SILKE: Ja, ich hatte in letzter Zeit ziemlich viel zu tun, aber uns geht es gut, wir bereiten uns so gut wie möglich auf unseren Umzug vor.
ADELE: Ihr zieht um? Warum das?
SILKE: Ja, nach dem Mauerfall hat mein Mann einen Job in Hamburg bekommen, der deutlich besser bezahlt ist, als sein derzeitiger. Deshalb haben wir beschlossen dorthin zu ziehen. Außerdem ist das bestimmt eine gute Möglichkeit für unsere Tochter, da sie ja bald die Schule abschließt und so mehr Möglichkeiten zur Studienwahl hat. Sie möchte ja so unbedingt Lehrerin werden… (freudig, in Gedanken versunken)
ADELE: Das freut mich sehr für euch, vielleicht sehen wir uns dann endlich mal wieder. In welchen Stadtteil zieht ihr denn? Ich kenne alle guten Cafés in ganz Hamburg, wir könnten und direkt nach eurem Einzug in einem treffen, mal zum Plaudern!
SILKE: Wir ziehen in eine kleine Siedlung am Rand der Stadt, genauer gesagt in den Rosenweg 2, ich weiß nicht, ob der dir was sagt?
ADELE: In dem Künstlerviertel?
SILKE: Ja genau.
ADELE: Oh wie wunderbar, dann seid ihr quasi unsere Nachbarn, wir wohnen um die Ecke, Taubenweg 3.
SILKE: Ernsthaft? Was ein Zufall! (lacht laut und herzlich)
ADELE: Wann zieht ihr ein?
SILKE: 3. Oktober, also in knapp 2 Monaten.
ADELE: Was hältst du von einem gemeinsamen Willkommens-Abendbrot bei uns? Ich mache auch deine Lieblingssuppe?
SILKE: Das klingt toll, ich freue mich schon und Gerda wird sich sicherlich auch freuen, deinen Sohn kennenzulernen.
ADELE: Ja ganz sicher, die beiden werden sich gut verstehen. Dann bis bald, war schön mal wieder mit dir zu reden!
SILKE: Finde ich auch, auf Wiedersehen!
ADELE: Auf Wiedersehen!

(Adele beendet das Telefonat)

Prolog

Natur. Das ist das Erste, was mir in den Kopf schoss, als wir die Grenze zwischen der DDR und der BRD überquerten. Die Landschaft, die eben noch von grauen Blöcken geprägt war, verwandelte sich in ein farbenfrohes Bild. Sattgrüne Wiesen und Wälder sowie der azurblaue Himmel prägten den Ausblick und ihre Farben flossen durch die Geschwindigkeit des Zuges ineinander. Seufzend schloss ich meine Augen und lehnte den Kopf gegen das Fenster. Sehnsüchtig dachte ich an meine Zeit in Parchim, die Stadt, in der ich meine ganze Kindheit verbracht habe. Nach meiner Geburt 1974 sind meine Eltern mit meinem großen Bruder und mir von Greifswald nach Parchim gezogen. Wie ich fand eine wunderschöne Stadt mit sehr netten Einwohnern. Wir hatten uns dort ein schönes Leben aufgebaut. Mein Vater hatte einen gut bezahlten Job und mein Bruder hatte sein Abitur erfolgreich gemeistert und ist dann zur Bundeswehr gegangen. Ich ging zuerst auf eine Realschule, durfte dann aber aufgrund meines guten Durchschnittes in die 11. Klasse. In der DDR war es nicht allen gestattet, ein Abitur zu machen, weshalb es ein Privileg für mich war.

Aber jetzt, nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Deutschlands 1990, hat sich alles verändert. Familien, die seit Jahrzehnten getrennt waren, konnten sich wiedersehen und das, sooft sie wollten. Es eröffneten sich neue Möglichkeiten und viele nutzten dies, um einen besser bezahlten Job zu finden. Darunter auch mein Vater: Er hatte eine Anfrage eines Unternehmens aus dem westlichen Bereich Deutschlands bekommen. Sie suchten nämlich einen Ingenieur für ein neues Projekt, was sie aufziehen wollten. Mein Vater war hin und weg von diesem Projekt, weshalb meine Eltern beschlossen hatten, dass wir nach Hamburg ziehen.                                                 Nachdem meine Eltern ein Haus in Hamburg gekauft hatten und alles Geschäftliche geregelt war, haben wir unsere Sachen gepackt und den erst besten Zug nach Hamburg genommen. Mein Vater ist jedoch schon früher mit unserem Auto und dem größten Gepäck vorausgefahren. Sodass nur meine Mutter, mein Bruder und ich im jetzigen Zug saßen.                  
 „Gerda, mein Schatz. Was schaust du denn so bedeppert drein? Freust du dich denn nicht auf unser neues Zuhause?“                                          
 Meine Mutter blickte von ihrem Roman auf, den sie die ganze Zeit über gelesen hatte, und bedachte mich durch ihre Lesebrille mit einem nachdenklichen Ausdruck. Ich zuckte nur mit den Schultern und ließ meinen Kopf gegen den Sitz fallen. Dabei lösten sich ein paar Strähnen aus meinem Dutt.                                                                                           „Beantworte du mir doch die Frage, warum ich keine positiven Emotionen verspüre, nachdem wir vor zwei Stunden die Stadt verlassen haben, wo wir unser ganzes Leben lang verbracht haben.“, sagte ich mürrisch und blitzte meine Mutter verständnislos an.                                                       Diese seufzte resigniert und legte ihre Lesebrille in ihr blaues Etui. Dann beugte sie sich vor und strich meine lose Strähne hinter mein Ohr.      
„Gerda, versuche bitte dich zu öffnen und positiv an die Sache heranzugehen. Ich weiß, es ist schwer seine Heimat zu verlassen, aber in Hamburg wirst du viel mehr Möglichkeiten haben. Du kannst eine bessere Bildung genießen und brauchst dir keine Sorgen, um deine spätere Arbeit machen.“                                                                                          
 Ich schaute ihr in die Augen und konnte sehen, wie wichtig ihr das war. Schließlich sagte ich: „Okay Mom. Ich kann es dir nicht versprechen, aber ich werde mir Mühe geben.“                                                                          Das schien meine Mutter zu besänftigen, denn sie nickte und konzentrierte sich darauf, ihre Sachen zu verstauen. Kurz darauf erscholl aus den Lautsprechern eine Stimme, die ankündigte, dass der Zug in zehn Minuten den Hauptbahnhof erreichen würde.                           
 Mein Bruder Jens, der die ganze Zeit über Musik gehört hatte, blickte aus dem Fenster und deutete auf ein gelbes Haus. „Ist das nicht unser neues Haus, Mom?“, fragte er.       
Ich schaute auf und stellte fest, dass wir den Stadtrand von Hamburg erreicht hatten.      Meine Mutter blickte zu dem Haus und lächelte. „Ja, das ist es.“ Ich unterdrückte ein Seufzen. Das konnte ja spaßig werden. Ich starrte die restlichen Minuten auf den Boden und als der Zug anhielt und wir ausstiegen, sah ich zum ersten Mal Hamburg. Mein neues Zuhause. Bei dem Gedanken kam kein einziges Glückshormon in mir auf. Deprimiert blickte ich auf das Gewusel der Menschenmassen und die riesigen Gebäude, die bis in den Himmel emporragten. Tja, was soll ich sagen? Willkommen in meinem neuen Leben.

Donnerstag, der 03.10.1991

„Willkommen Zuhause!“ Meine Mutter stemmte die Hände in die Hüfte und betrachtete unser neues Haus, als wenn es das schönste auf der ganzen Welt sei. Dabei blätterte die gelbe Fassade ab und an manchen Stellen hatte sich Moos gebildet.                                                                                     
 Ich verzog das Gesicht und hoffte, dass es drinnen nicht genauso aussah. „Mom … wie viel habt ihr dafür nochmal bezahlt?“, fragte ich und schielte zu ihr. Diese legte die Stirn in Falten. „Ich glaube es waren so um die 977915 DM. Wieso fragst du?“ Ehe ich antworten konnte schnaubte mein Bruder verächtlich und sagte: „Das Haus ist eine Bruchbude! Schau dir doch nur die Fassade an!“ Meine Mutter blickte zwischen mir und meinem Bruder hin und her. „Ich hätte es zwar auf eine subtilere Art gesagt, aber Jens hat nicht unrecht.“, meinte ich und, dass ich meinem großen Bruder Recht gab, war äußerst selten.                                                              
Meiner Mutter entfuhr ein Lachen und sie schüttelte mit Inbrunst den Kopf. „Ihr glaubt doch nicht etwa, dass wir so viel Geld für ein Morsches Haus bezahlen würden! Das Haus ist auf den neusten Stand, mit neuen Fenstern, neuen Böden etc. Die Fassade wird in den kommenden Tagen ebenfalls erneuert. Ihr werdet schon sehen, das Haus wird das schönste in dieser Gegend sein.“                                                        
Erleichtert stieß ich die angehaltene Luft aus und hoffte, dass sie Recht hatte. „Dann lasst uns das Gepäck reintragen und auf eure Zimmer bringen.“, sagte meine Mutter und schloss die Tür auf.           
Neugierig lugte ich in den Flur und mir stockte der Atem. Der Eingangsbereich war sehr groß und beinhaltete eine Garderobe aus Holz und eine breite Wendeltreppe nach oben, die ebenfalls aus massivem Holz bestand. Links vom Flur waren zwei Türen: Eine führte zum Hauswirtschaftsraum und die andere zur Gäste-Toilette. „Mom, der Eingangsbereich ist ja noch größer, als bei unserem alten Haus.“, wisperte ich. „Ich habe es euch doch gesagt. Und schaut mal: der Boden ist ebenfalls aus Holz und darunter befindet sich eine Fußbodenheizung.“ Meine Mutter war ganz aus dem Häuschen. Sie trat ein, streifte sich die Schuhe von den Füßen und betrat durch einen großen Bogen das Wohnzimmer. Mein Bruder und ich folgten ihr. Das Wohnzimmer war wie der Flur sehr geräumig. Rechts konnte man zu der Küche und zum Essbereich gelangen, wie vorhin war auch hier alles aus Holz. Ich schaute nach links und sah eine gemütliche Ledercouch in U-Form, einen Beistelltisch und einen Fernseher auf der gegenüberliegenden Seite der Couch. Den Boden verzierte ein moderner beiger Teppich, die Wände des Raumes waren dunkel türkis. „Wartet erst ab, wie eure Zimmer aussehen.“, rief meine Mutter, die in die Küche gegangen war. Jens hatte es anscheinend eilig, denn er marschierte ungeduldig hinter ihr her und fragte, wo sein Zimmer sei. Dann ging er nach oben. „Gerda, dein Zimmer befindet sich im 1. Stock. An der Tür klebt ein Zettel mit deinem Namen drauf.“, sagte mir meine Mutter. Ich nickte nur und ging die Treppe hoch. Oben angekommen ließ ich meinen Blick über die weinroten Wände des Flures schweifen, bis ich ganz am Ende die Tür meines Zimmers entdeckte. Von Neugier gepackt ging ich mit schnellen Schritten darauf zu und öffnete die Tür. Als ich meine neuen vier Wände sah, stockte mir der Atem.                                             
Das Zimmer war himmelblau angestrichen und mit dunklen Holzmöbeln bestückt. Links von der Tür befand sich ein großer Schreibtisch an dem ich bestimmt in Zukunft viel schreiben werde. Ich schloss die Tür, stellte meine Tasche ab und ließ mich auf das große Bett fallen. Meine Augen scannten den Kleiderschrank an der gegenüberlegenden Wand, die dunkelblauen Vorhänge an den Fenstern, die Regale und schließlich den Garten, den ich von meinem Zimmer aus sehen konnte. Widerwillig musste ich mir eingestehen, dass unser neues Zuhause gar nicht so schlecht war. Mit Inbrunst schüttelte ich den Kopf und tadelte mich für mein naives Verhalten. Nur weil das Haus einen guten Eindruck machte, musste es nicht heißen, dass der Rest von Hamburg auch so war. Ich gab mir einen Ruck und versuchte mich zu motivieren, die Tasche auszupacken.                                                                                               Nach zehn Minuten hatte ich meine Bücher eingeräumt und betrachtete das vollendete Werk. Dann wandte ich mich den Kleidungsstücken zu und begann sie ordentlich in den Schrank zu hängen. „Gerda! Jens! Das Essen ist fertig!“, rief meine Mutter von unten und ich unterbrach das Einräumen meiner Sachen. Ich erhob mich und ging nach unten in die Küche. Meine Mutter stellte gerade die befüllten Teller auf den Esstisch und mir lief bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Ich nahm auf einen Stuhl Platz und fuhr mit der Zunge unauffällig über meine Lippen.  „Was gibt es denn?“, fragte mein Bruder, als er ebenfalls die Küche betrat. „Knödel mit dunkler Soße, Rotkohl und Fleisch.“ Meine Mutter warf meinem Bruder einen amüsierten Blick zu, als dieser bei ihren Worten erfreut die Augen aufriss. „Wann kommt denn Dad nach Hause?“, ich blickte meine Mutter fragend an. „Er müsste jeden Moment kommen.“, meinte sie und in dem Augenblick hörte ich, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. „Hallo allerseits! Das riecht ja köstlich hier.“ Mein Vater erschien im Bogen und gab meiner Mutter einen Kuss. Jens verzog angewidert das Gesicht. „Warum suchst du dir denn nicht eine nette Freundin, Jens? Du weißt gar nicht, was du verpasst.“, zog ihn mein Vater auf und legte demonstrativ eine Hand auf die Schulter meiner Mutter.  „Nein danke. Ich verzichte.“, erwiderte dieser darauf und stopfte sich einen Knödel in den Mund. Meine Eltern schmunzelten und setzten sich.            Mein Vater erzählte von den geschäftlichen Sachen und auf welche Schule ich demnächst gehen würde. „Die Schule ist sehr viel versprechend. Sie hat den besten Ruf in der Stadt und schon etliche Preise gewonnen. Es wird dir dort sicherlich gefallen und Freunde wirst du auch schnell finden.“, sagte er während er sich etwas in sein Glas einschenkte. „Da wir gerade von Freunden reden, ich wollte euch auch noch etwas sagen: Heute Abend sind wir zum Abendessen bei einer guten Freundin eingeladen. Ihr Sohn müsste ungefähr in deinem Alter sein, Gerda. Vielleicht versteht ihr euch ja.“ Ich verschluckte mich an meinem Getränk und hustete. Jens blickte ebenfalls missmutig drein. „Muss das wirklich sein Ma?“, fragte er genervt und sprach meine Gedanken aus. Meine Mutter legte ihr Besteck beiseite und blickte uns warnend an. „Erstens, ja ihr werdet dort hingehen und zweitens, Aiden und Adele sind sehr nett und ihr werdet euch blendend verstehen.“                                                        Ich unterdrückte ein Seufzen. Obwohl ich den Enthusiasmus meiner Mutter nicht teilte, wollte ich sie nicht enttäuschen. „In Ordnung Mom. Wir werden uns Mühe geben.“ Mit dieser Antwort war sie sichtlich zufrieden. Nach dem Mittagessen holte ich mein Tagebuch aus meinem Zimmer und zog mir meine Jacke an. Mein Vater hörte mich und fragte: „Wo willst du denn hin?“ „Ich schau mir mal die Gegend an!“, rief ich und schlüpfte in meine Schuhe. Mein Tagebuch eng an meinem Oberkörper gepresst, verließ ich das Haus. Draußen atmete ich die kühle Luft ein und lauschte dem Gezwitscher der Vögel. „Vielleicht ist Hamburg ja doch nicht so schlecht.“, murmelte ich leise und trat auf die Straße.                                                                             
Das Künstlerviertel machte auf mich einen ruhigen Eindruck. Die Straßen wurden anscheinend nicht oft befahren und, anders als in der Innenstadt, war die Umgebung sehr groß und weitläufig. Überall standen Häuser mit gepflegten Gärten und jedes davon war individuell. Ich ging den Rosenweg entlang und schaute mir die Nachbarshäuser an. Eines stach dabei besonders heraus. Es war ein großes Grundstück umgeben von einem grünen Zaun. Der Garten war vollgestellt mit Krimskrams und hier und da waren Beete, die alle möglichen Gemüsesorten beinhalteten. Inmitten dieser Unordnung stand ein kleines Häuschen und zog wahrscheinlich so manche Blicke auf sich. Denn die braune Fassade wurde von abstrakten Malereien verziert. Der Künstler schien ganz vernarrt in grelle Farben gewesen zu sein. Die bunten Formen und Striche schienen kein genaues Ziel zu verfolgen. Sie waren einfach da. Und dennoch war ich fasziniert von diesem Kunstwerk. Ich zückte mein Tagebuch und skizzierte das Haus am Rand der nächstleeren Seite. Später würde ich dazu meine Gedanken und Gefühle aufschreiben.                         
 Die nächste Straße trug den Namen Eulenweg. Ich musste schmunzeln und fing an, leise ein Lied vor mich her zu singen. Die nächsten zwanzig Minuten streifte ich durch das Künstlerviertel, bis ich eine Bank bei zwei stämmigen Bäumen entdeckte und mich dort niederließ. Meine Finger strichen über den weichen Ledereinband meines Tagebuchs. Der Einband war schon etwas älter und abgegriffen, sodass sich eine Patina gebildet hatte. Anderen würde das sicher stören, doch ich liebte es, wenn man anhand der Bücher sah, dass man sie oft in der Hand hatte. Ich schloss die Augen und genoss die Ruhe. Dann nach ungefähr zehn Minuten trat ich den Rückweg an.

Donnerstag, der 03.10.1991

Tief in Gedanken versunken lief ich den Taubenweg entlang. Mein Kopf arbeitete bereits an einem Plan für das nächste Konzert der Schulband, meiner Band. Seit Wochen konnte ich an nichts anderes mehr denken. Schon in wenigen Monaten musste die Schulband vorschriftsgemäß ein Konzert vor der gesamten Schule mit Eltern und sonstigen Musikbegeisterten der ganzen Umgebung geben und uns fehlte immer noch die perfekte Sängerin. Milla, unsere ehemalige Sängerin war vor Kurzem weggezogen und seitdem sind wir auf der Suche, nach einem Ersatz, doch egal wer bisher vorgesungen hatte, keine Stimme passte zu der von unserem Sänger Milan und das machte mich wahnsinnig. Frustriert bog ich in den Tulpenweg ein und ging, nein marschierte, schnurstracks in Richtung Eulenweg. Wer auch immer sich die Namen für diese Straßen ausgedacht hat, musste ein echter Vogelliebhaber gewesen sein, und zusätzlich besessen von Blumen, ich meine, warum gab man sonst Straßen diese Namen? Plötzlich kam mir ein Gedankenblitz, eine fixe Idee wie ich doch noch an eine passende Sängerin rankommen könnte. Meine Schritte verschnellerten sich bis ich beinahe rannte. Ich bog in den Rosenweg ein, so ein kitschiger Name, und rannte an einem parkenden LKW vorbei, der direkt vor dem seit längerem leerstehenden Haus stand. Ich hinterfragte es gar nicht erst, bestimmt gab es irgendein Problem mit dem Haus, oder sie rissen es endlich ab, es war sowieso schon steinalt. Ich wandte meinen Blick wieder nach vorne und sah gerade noch, wie das fremde Mädchen ihre leuchtend grünen Augen vor Schreck aufriss, bevor ich gradewegs in sie hineinrannte. Ihr in kastanienbraunes Leder gebundenes Buch, das sie zuvor fest an ihre Brust gepresst hatte, fiel zu Boden und sie gleich mit ihm. Ich konnte gerade noch mein Gleichgewicht halten, dem vielen Training sei Dank, und blieb auf meinen Füßen. Mein Blick wanderte zu ihr nach unten. Sie hatte blond-braune Haare, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hat, aus dem sich aber bereits einzelne lockige Strähnen lösten. Ihr Gesicht war markant, gekrönt durch eine geschwungene Nase und viele kleine Sommersprossen. Ich streckte ihr meine Hand hin, um ihr aufzuhelfen und wollte mich entschuldigen, als sie mir mit bösem Blick entgegenschleuderte: „Pass doch auf du Idiot, kannst du etwa nicht nach vorne gucken?“ Sie schnappte sich ihr Buch und machte auf dem Absatz kehrt. Völlig perplex schaute ich ihr nach, wie konnte man nur so unhöflich sein? Wer war sie überhaupt? Ich habe sie hier noch nie gesehen und ich kannte jeden hier, so wie mich auch jeder hier kannte, besser gesagt kennen sollte, wenn er nicht mit dem Kopf in der Schultoilette landen wollte. Ich hoffte, dass ich sie nie wieder sehen musste, denn ich konnte sie absolut nicht leiden. 

Mit Schwung öffnete ich unsere große, graue Haustür und stürmte ins Haus. Meine Jacke warf auf die Marmortreppe und schnappte mir unser Haustelefon um Milan anzurufen, doch meine Mutter unterbrach mich: „Oh hallo Aiden, du bist schon zurück?“ „Hi Mom, ja bin ich, ich muss dringend Milan anrufen um mit ihm über unsere Band zu sprechen, können wir später reden?“ „Klar Liebling, aber vergiss nicht, dass heute Abend eine alte Freundin von mir mit ihrer Familie zum Essen kommt. Sie sind gerade erst hergezogen, habe ich dir doch schon gesagt, oder?“ Ich stoppte, das hatte ich vollkommen vergessen. Mom hatte ihre alte Schulfreundin zum Essen eingeladen. So ein Mist. „Habe ich nicht vergessen.“ log ich, um so schnell wie möglich das Gespräch zu beenden. „Sehr schön, du und Silkes Tochter werdet euch sicher gut verstehen, sie ist in deinem Alter.“ Ein Schauer lief mir über den Rücken und in meinem Kopf nistete sich sofort das Bild des unbekannten Mädchens ein. Nein, das konnte nicht sein, das Mädchen sah nicht aus, wie jemand, der von der anderen Seite kam, sie wirkte farbenfroh und nicht so grau, wie es die meisten Menschen dort waren und sie trug auch keine Uniform oder ähnliches. Menschen von der anderen Seite mussten doch immer so was tragen oder nicht? Hing das nicht mit dem schrecklichen Regime zusammen, das sie alle so naiv unterstützten? Wie auch immer, sie war definitiv nicht die Tochter von Moms DDR-Freundin, also kein Grund zur Panik. Ich lächelte Mom nur noch kurz an, bevor ich endlich Milan anrufen konnte. 

Ein paar Stunden später, ich spielte gerade Schlagzeug, klingelte es. Meine eben noch gute Laune fiel sofort in den Keller. Sie waren da. Stöhnend richtete ich mich auf und ging quälend langsam die Treppe runter. Sollten sie doch draußen in der Kälte warten. „Aiden, kannst du bitte die Tür öffnen?“ rief Mom aus der Küche. „Bin unterwegs!“ antwortete ich, ohne meinen genervten Unterton zu verbergen. Ich nahm die letzten beiden Stufen auf einmal, damit sie sich nicht beschweren konnte, und öffnete die Haustür. Davor standen eine kleine Frau mit grünen Augen und etwa schulterlangem, blondem Haar, ein Mann mit braunen Augen, braunen, kurzen Haaren und stabilem Körperbau sowie ein durchtrainierter junger Mann, ich schätzte ihn auf ungefähr 20 Jahre, mit ebenfalls haselnussbraunem Haar. Die Frau lächelte mich freundlich an. „Hallo, ich bin Silke.“ stellte sie sich vor. „Du musst Aiden sein, deine Mutter hat mir schon so viel von dir erzählt. Freut mich dich endlich kennenzulernen.“ Ich zwang ein falsches Lächeln auf mein Gesicht, um meiner Moms Willen, und nickte ihr zu. „Die Freude ist ganz meinerseits.“ Ich trat ein Schritt beiseite, um sie reinzulassen. Ihr Mann folgte dicht hinter ihr und stellte sich als Thorsten vor. Der junge Mann hieß Jens. Er sagte noch irgendetwas zu mir, doch ich beachtete ihn schon gar nicht mehr, denn hinter ihm stand das fremde Mädchen von vorhin und starrte mich aus ihren leuchtenden Augen an. Es sah ein bisschen so aus, als würde flüssiges grünes Gift aus ihnen fließen, doch vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Meine Mutter kam in Kochschürze aus der Küche, ein breites Lächeln auf den Lippen: „Wie schön das ihr hier seid! Hallo Silke!“ Sie umarmte die Frau fest, so als hätte sie eine seit Jahren vermisste Person wiedergefunden, was auch mehr oder weniger der Wahrheit entsprach, denn Silkes Familie war auf der anderen Seite eingesperrt gewesen, weshalb sie sich nie treffen konnten. Ich wollte gar nicht wissen, welche Ideologien sie hier mit in unser schönes Deutschland brachten. Schnell schüttelte ich diesen Gedanken ab, es war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Meine Mom wandte sich auch den restlichen Familienmitgliedern zu und begrüßte jeden mit einer typischen Mom-Umarmung. „Hallo Thorsten, hallo Jens, mensch du bist aber groß geworden. Oh und hallo Gerda, was für eine wunderschöne junge Frau du doch bist. Das ist Aiden, mein Sohn. Sicher hat deine Mutter dir schon von ihm erzählt.“ Sie entließ das Mädchen, das anscheinend Gerda hieß, aus ihrer festen Umarmung und schob mich nach vorne. Ich starrte nur stumm auf Gerda herab, sie reichte mir gerade mal bis zu den Schultern. Mom stieß mich von hinten an. Ich räusperte mich und erneuerte mein Lächeln bevor ich übertrieben freundlich sagte: „Hallo Gerda, schön dich kennenzulernen.“ Sie kniff ihre Augen zusammen und musterte mich von oben bis unten, als wäre ich so ein Spielzeug im Schaufenster eines Ladens, bei dem sie schon überlegt, wie sie es am besten kaputt machen konnte. Aber da legte sie sich mit dem Falschen an, sie hatte ja keine Ahnung, wer ich war und welche Stellung ich hier in diesem Viertel hatte. „Die Freude ist ganz meinerseits.“ Ihre Stimme klang müde und erschöpft, aber das interessierte mich rein gar nicht, eher im Gegenteil, innerlich freute ich mich darüber, dass sie ausgelaugt zu sein schien. Ich wandte mich ab, um mein Grinsen zu verbergen und ging in die Küche. Mom und die anderen folgten mir. Mom bat sie, sich um unseren großen, runden Tisch zu setzten, während sie mich mit einer flüchtigen Handbewegung dazu aufforderte, das Essen vom Herd auf den Tisch zu bringen. Ich tat, wie sie mir befohlen hat, und trug die Platten und Schüsseln voll Gemüse, Kartoffeln, Fleisch und Soßen auf den Tisch. Bei den Mengen an Essen könnte man denken, Mom hat nicht nur für uns beide und die fremde Familie gekocht, sondern auch noch für Dad und seine alte Band, die seit Dad gestorben ist, theoretisch nicht mehr existierte. Das war mindestens genauso typisch für sie, wie ihre viel zu herzlichen Umarmungen. Ihre Regel: „Wann immer Geste in unser Haus kommen, behandeln wir sie wie Könige.“ nahm sie jedes Mal viel zu ernst und ich hatte Befürchtungen, dass das bei ihrer ach so tollen Freundin noch schlimmer werden würde, als es sowieso schon war. Als ich mich an den Tisch setzte, war sie bereits dabei, die Teller der anderen mit Bergen von Essen zu füllen und ich schaffte es gerade noch mir meinen Teller zu sichern, bevor sie mir mehr darauf tun konnte, als ich jemals in mich zwingen könnte. Stattdessen nahm sie sich Gerdas Teller und füllte ihn, bis das Essen beinahe wieder herunter viel. „So bitteschön liebe Gerda. Ich hoffe du magst das Essen. In deinem Alter ist es wichtig, viel Gesundes zu essen, damit deine Körper sich gut weiterentwickeln kann.“ Silke, Gerdas Mutter, lächelte Mom an, als hätte sie das Beste auf der Welt gesagt. Ich wandte meinen Blick ab, nur um zu sehen, wie Gerda mit großen Augen auf den Haufen Essen starrte. Wieder musste ich ein Grinsen unterdrücken, schaffte es aber nicht mir einen Kommentar zu verkneifen: „Genau Gerda, es ist wirklich wichtig viel zu essen, wir wollen ja nicht, dass du weiterhin aussiehst wie ein Zahnstocher.“ Ihre Augen weiteten sich und Mom sah mich wütend an. „Aiden, was soll denn das? So habe ich dich nicht erzogen, entschuldige dich sofort!“ Ich setzte mein bestes unterwürfiges Gesicht auf, das bei meiner Mutter immer wirkte, und sagte: „Tut mir leid Mom, ich hatte einen schlechten Tag.“ „Du sollst dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei Gerda.“ Ich drehte den Kopf und sah Gerda an, die mich mit einem hochnäsigen, erwartungsvollen Blick anschaute. „Tut mir leid Gerda, es war nicht so gemeint. Bitte verzeih, dass ich heute etwas miese Laune habe und nimm mich nicht so ernst.“ Noch während ich sprach stellte ich sicher, dass sie in meinem Gesicht lesen konnte, wie egal sie mir war und dass ich diese Entschuldigung nicht mal annähernd ernst meinte. Aber vielleicht verstand sie selbst meine offensichtlichen Hinweise nicht, immerhin kam sie von der anderen Seite, da glaubten die Menschen ja alles, was man ihnen erzählte und hielten sich trotzdem für unantastbar. Silke schien die steigende Spannung am Tisch zu bemerken, denn sie unterbrach Gerdas und meinen stillen Anstarrwettbewerb und plauderte los: „Adele hat erzählt, dass du auf das Wilhelm-Gymnasium an der Außenalster gehst. Gerda wird die Schule auch besuchen, vielleicht kannst du sie ein bisschen herumführen?“ Ich ließ meinen Löffel beinahe fallen. Ich sollte was tun??? Gerade noch rechtzeitig, bevor ich ablehnen konnte, bemerkte ich den warnenden Blick meiner Mutter und da ich sie nicht noch mehr verärgern wollte, antwortete ich: „Natürlich kann ich das tun. Ich kann ihr auch gleich die Regeln an der Schule erklären und mit wem sie sich besser nicht anlegen sollte.“ Besonders beim letzten Teil warf ich Gerda einen herausfordernden Blick zu. Dann ergänzte ich schnell: „Damit sie nicht in Schwierigkeiten kommt natürlich.“ Das schien ihre Eltern zu beruhigen und Thorsten lächelte mich an: „Danke Aiden, sie hat leider etwas Schwierigkeiten Freunde zu finden, es ist toll, wenn sie am Anfang wenigstens dich hat.“ So war das also, das konnte ja nur lustig werden. Ich nickte grinsend und wandte mich wieder meinem Essen zu. Der Rest des Abendessens verlief ohne weitere Zwischenfälle. Mom und Gerdas Eltern unterhielten sich ohne Luft zu holen, Gerda starrte nur auf ihr Essen, und von ihrem Bruder bekam ich gar nichts mit.Später am Abend, als die Trembraz gegangen waren, lag ich auf meinem Bett und dachte nach. Sie würde also auf meine Schule gehen. Fiese Ideen mischten sich mit dem Hass, den ich ihr gegenüber empfand. Denkt sie wirklich, sie kann sich weiterhin so aufführen. Sie wird schon sehen, was ein DDR-Mädchen wie sie an einer Schule, an der ich das Sagen hatte, erwartete. Ich werde mein Bestes tun, um ihr das Leben dort zur Hölle zu machen.

Montag, der 07.10.1991

Ich schaute in den Spiegel und zupfte an meinen Klamotten herum. Unsicher biss ich mir auf die Lippe. Sehe ich so gut aus?, dachte ich. „Vielleicht ziehe ich doch den anderen Pullover an.“, murmelte ich, streifte mir den hellblauen Kapuzenpulli herunter und entschied mich dann für einen weißen Rollkragenpullover. Dieser passte meiner Meinung nach besser zu meiner cremefarbenen Jeans. Zufrieden betrachtete ich mein Werk, als mein Vater mich von unten rief. „Gerda! Wir müssen los!“ Eilig schnappte ich mir meinen Schulrucksack, band meine Haare routinemäßig zu einem Dutt zusammen und lief die Treppe hinunter.  Mein Vater nahm bereits die Autoschlüssel von der Garderobe und lehnte sich an die Tür. Als er mich erblickte pfiff er leise durch die Zähne. „Na sieh mal einer an. Da kommt ja meine wunderschöne Prinzessin.“ Ich schmunzelte leicht und zog mir meine Jacke und die Schuhe an. Mein Vater stieß sich vom Türrahmen ab und zog mich in eine feste Umarmung. „Heute ist dein großer Tag.“, flüsterte er und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. „Hast du nicht gesagt, dass wir losmüssen?“, fragte ich provokant doch er winkte ab. „So viel Zeit muss sein.“ Wir gingen lachend zum Auto und stiegen ein. Dann fuhr mein Vater in das Zentrum von Hamburg, auf dem Weg dorthin ließ ich meinen Blick über die vorbeirauschenden Menschenmassen gleiten. Insgeheim war ich froh, dass wir im ruhigen Teil von Hamburg wohnten. Hier waren es mir eindeutig zu viele Menschen.                                                                            
Nach ungefähr dreißig Minuten umrundeten wir einen großen See und wenig später machte mich mein Vater auf ein Gebäude aufmerksam. „Das ist deine neue Schule: Das Wilhelm Gymnasium.“, meinte er und bog auf den Parkplatz. Ich musterte das Gebäude. Es war so ähnlich aufgebaut, wie meine alte Schule, bloß, dass das Gebäude rot war und alles irgendwie farbenfroher und heiterer wirkte. Als wir anhielten wünschte mir mein Vater viel Spaß und wartete, bis ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, ehe er wieder losfuhr.        Ich drehte mich um und beobachtete, wie die Schüler in Grüppchen auf dem Schulhof standen und Neuigkeiten austauschten. Einige spielten auf dem Sportplatz zu meiner Linken Fußball und schrien sich gegenseitig an. Ich schmunzelte, das war zumindest schon mal wie Zuhause. Rechts befand sich ein etwas kleineres Nebengebäude, was wahrscheinlich für Schulveranstaltungen benutzt wurde. Das Klingeln der Schulglocke unterbrach meine Gedanken und ich folgte den Schülern hinein. Ich stellte mich an den Rand des Flures um mir einen Überblick zu verschaffen und mein nächstes Handeln zu planen. „Hmm … ich glaube, ich sollte zuerst jemanden fragen, wo der Raum des Deutsch Leistungskurses ist. Laut des Stundenplans findet er immer montags in den ersten beiden Stunden statt.“, murmelte ich und schaute mich nach jemandem um, der eventuell in die zwölfte Klasse ging. Da fiel mein Blick auf einen großen, schlanken Jungen mit einem kantigen Gesicht, einer spitzen Nase und leuchtend grünen Augen. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Es war Aiden, der da vor den Spinden stand und sich mit einem anderen Jungen unterhielt. Wegen der Vertrautheit und dem lockeren Umgang miteinander, schloss ich daraus, dass es sich dabei höchst wahrscheinlich um Aidens Freund handelte.                                      Es widerstrebte mir, zu den beiden hinzugehen und nach dem Raum zu fragen, vor allem nach dem Abendessen neulich. Aber sie waren nun mal die einzigen die noch auf dem Schulflur standen und wenn ich nicht zu spät kommen wollte, war ich mehr oder weniger dazu gezwungen, sie anzusprechen. Ich straffte die Schultern und näherte mich ihnen mit schnellen Schritten. Aiden lachte gerade über etwas, das sein Freund gesagt hatte, und hielt in der Bewegung inne, als er mich erblickte. Sein Lächeln erlosch und es war ihm anzusehen, dass er überhaupt keine Lust verspürte, eine Konversation mit mir zu führen. Sein Freund bemerkte mich ebenfalls und drehte sich um. Im Gegensatz zu Aiden jedoch, besaß er zumindest den Anstand mich freundlich anzulächeln. Ich räusperte mich und sagte: „Hi, ich will euch beide nur ungern stören, aber könntet ihr mir vielleicht sagen, wo der Deutsch Leistungskurs stattfindet?“  

Wenn ich wirklich dachte, dass Aidens Mimik nicht noch mehr Abneigung symbolisieren würde, dann hatte ich mich zu tiefst getäuscht. Denn aus irgendeinem, mir unklarem Grund, verzog er kurz das Gesicht und seine Augen verdunkelten sich. Sein Freund schien das nicht zu merken, sondern plapperte einfach los. „Na was für ein Zufall! Wir haben jetzt ebenfalls Deutsch. Wenn du willst, können wir dir den Weg zeigen.“                     „Ähm, das wäre toll.“, sagte ich und hätte mich am liebsten für meinen schüchternen Unterton geohrfeigt. „Ich bin übrigens Milan und das neben mir ist Aiden.“, stellte er sich nun vor und zeigte dabei auch auf Aiden. „Freut mich dich kennenzulernen. Ich heiße Gerda.“ Ich hielt es in diesem Moment nicht für schlau, ihm unter die Nase zu reiben, dass Aiden und ich schon miteinander Bekanntschaft gemacht hatten. Aiden wäre davon sicherlich ebenfalls nicht begeistert.                                         „Dann wollen wir mal!“, sagte Milan und ging den Schulflur entlang zum rechten Treppenaufgang. Aiden fuhr mit seiner Hand durch sein schwarzes, welliges Haar und folgte ihm. Ich versuchte meinen Zorn, der sich wegen ihm aufbaute, zu unterdrücken und ging den beiden hinterher. Milan führte uns in den zweiten Stock und öffnete die Tür mit der Nummer 32. Im Inneren des Klassenzimmers erscholl das Gemurmel von vielen Schülern. Milan betrat den Raum und zeigte auf einen leeren Platz neben einem blonden Jungen. „Du kannst dich neben Aaron setzen. Er ist echt in Ordnung und wird dir bei Fragen sicher helfen.“, sagte er und ließ sich dann neben Aiden nieder, der bereits seine Schulsachen auspackte.                 Ich schulterte meinen Rucksack und ging zu Aaron. Er schaute zu mir und begrüßte mich mit einem offenen Lächeln. „Hallo, ich bin Aaron. Du kannst dich gerne neben mich setzen.“ Ich tat was er sagte und stellte mich ebenfalls vor. „Danke. Ich bin Gerda und seit heute neu an der Schule.“ Aaron musterte mich interessiert aus seinen blaugrauen Augen und legte den Stift beiseite, den er in der Hand hielt. „Woher kommst du, wenn ich fragen darf?“ Während ich meine Federtasche, das Buch und den Deutschhefter exakt an die Tischkante schob, antwortete ich: „Ich komme aus Parchim. Eine Stadt in der damaligen DDR. Meine Eltern kommen ursprünglich aus der BRD, sind dann aber in die DDR umgezogen, als die Schwester meines Vaters krank wurde und sie ihre Hilfe brauchte.“ Aarons Augen weiteten sich überrascht, er schien jedoch, anders als Aiden, keine Vorurteile zu hegen. „Wie war es denn in der DDR?“, fragte er zögerlich und spielte mit seinen Händen herum. Er war nervös. Offensichtlich wollte er in kein Fettnäpfchen treten, aber dennoch Interesse an meiner Vergangenheit zeigen.                                                              Ich lehnte mich zurück und benetzte mit meiner Zunge die Lippen. „Bevor ich die BRD gesehen habe, ist mir nicht groß aufgefallen, dass wir in der DDR nicht so viele luxuriöse Sachen hatten wie ihr. Es hat mich jedoch nie gestört. Wir hatten ein gutes Bildungssystem, Essen und Trinken, ein Dach überm Kopf, ein warmes Zuhause und nie finanzielle Schwierigkeiten. Es war eine schöne Zeit in der DDR. Sicherlich nicht perfekt, ich meine, welcher Ort ist denn fehlerfrei? Jede Sache hat ihre Schönheitsmakel, es macht sie jedoch nicht weniger erotisch. Im Gegenteil man lernt, die positiven Dinge im Leben zu schätzen.“, ich verstummte und blickte aus dem Fenster, ehe ich fortfuhr, „Ich kann jedoch nur von mir sprechen. Es gab bestimmt welche, die die Zeit in der DDR schrecklich fanden. Vielleicht weil sie alleine waren, keinen gut bezahlten Job hatten oder die STASI sie bedrängt hat.“                                                                   Aaron strich sich über das Kinn und schaute mich gebannt an. „Wurdest du jemals von der STASI belästigt?“, fragte er dann und wartete neugierig auf die Antwort. „Nicht wirklich. Das lag bestimmt daran, dass meine Familie eher unauffällig war und meine Eltern einen gut bezahlten Job hatten.“                                                                                               Ich schnipste einen Krümel von meiner Hose und blickte ihn dann an. „Was machst du eigentlich in der Freizeit?“, entgegnete ich.      Bevor Aaron etwas sagen konnte, kam eine rothaarige Frau in den Raum und legte ihre Tasche auf den Lehrertisch. Alle verstummten sofort und setzten sich aufrecht hin.                                                                             „Guten Morgen.“, sagte die Lehrerin. Die Klasse erwiderte den Gruß und widmete sich ihren Unterlagen. Mit einem Blick zu mir schrieb sie ihren Namen an die Tafel. „Für alle Neuzugänge: Ich heiße Frau Otte und unterrichte Deutsch, Englisch und Kunst. Schlagt bitte das Deutschbuch auf Seite 123 auf und untersucht den Text auf sprachliche Mittel. Wir vergleichen in zehn Minuten.“                                                                    Während der Deutschstunde versuchte ich, mich nur auf den Unterricht zu konzentrieren anstatt Aiden in meinem Kopf mit wüsten Beschimpfungen zu bewerfen. Doch es gelang mir nicht. Ich schaute ihn die ganze Zeit über immer wieder an und wenn er sich meldete und die Antwort richtig war, presste ich die Zähne aufeinander und versuchte keine Grimasse zu ziehen.                                                                       Um neun Uhr fünfzehn endete die Doppelstunde und die Schüler packten eilig ihre Sachen zusammen. Aaron schulterte seinen Rucksack und fragte mich: „Was hast du jetzt?“ Ich schaute kurz auf meinen Stundenplan. „In den nächsten beiden Stunden habe ich frei.“ Mein Gegenüber zog eine Flunsch. „Du Glückliche. Ich habe jetzt Physik mit Herrn Wünschmann.“ „Magst du keine Physik?“, fragte ich und lächelte mitfühlend. Aaron seufzte. „Doch eigentlich schon, aber das aktuelle Thema ist echt langweilig.“ „Da muss jeder mal durch. Da kann man nur sagen: Augen zu und durch.“, meinte ich und entlockte Aaron ein Schmunzeln. „Na dann, wir sehen uns.“, sagte er und hob zum Abschied die Hand.                  Ich schaute ihm noch nach, ehe ich mich an Frau Otte wandte, die noch immer im Raum war. „Entschuldigen Sie? Wo befindet sich hier das Sekretariat?“                                                                                                  Frau Otte hob ihren Blick und lächelte mich freundlich an. „Du musst die Treppe runter, dann rechts abbiegen und bis zum Ende des Schulgebäudes gehen.“ „Dankeschön! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“, verabschiedete ich mich und begab mich zum Sekretariat, um einen Spind zu mieten.                                                                                         Dort angekommen klopfte ich an die Tür und trat in den dahinter liegenden Raum. „Hallo, ich bin neu an der Schule und würde gerne einen Spind mieten.“, sagte ich und trat vor den Tresen. Die Frau rückte ihre Brille zurecht und musterte mich. Dann holte sie einen Ordner hervor. „Name?“                                                                                       „Gerda Trembraz.“ Ich strich mit der Hand sacht über das abgenutzte Holz des Tresens und wartete. „Wir hätten noch einen großen Spind in der zweiten Reihe. Die Miete pro Schuljahr kostet … dazu kommt ein Pfand von …, den du nur einmal bezahlen musst. Wenn du den Spind dann nicht mehr mieten möchtest, bekommst den Pfand zurück.“, meinte die Sekretärin und schaute mich fragend an. „Dann würde ich diesen Spind nehmen.“ Ich holte das Geld heraus und legte es auf den Tresen. Darauf bekam ich eine Quittung und den Schlüssel. Ich verabschiedete mich und begab mich in den Freizeitraum.                                                        Der Raum war mit gemütlichen Sitzecken gefüllt, an einer Wand stand ein Tisch mit Stühlen und einem Schachbrett und die Wände wurden mit Zeichnungen verziert. Außer mir waren noch drei weitere Schüler hier und hatten es sich gemütlich gemacht. Ich nickte ihnen zu, ließ mich auf einen der Stühle fallen und holte mein Englischbuch heraus. Die nächsten zwanzig Minuten war ich damit beschäftigt, mich mit dem Thema zu beschäftigen, was der Englisch Grundkurs derzeit behandelte. Als dann die Tür zum Freizeitraum geöffnet wurde, hob ich meinen Blick und sah drei Mädchen mit aufgestylten Frisuren und Outfits hereinkommen. Beim näheren Betrachten fiel mir ein, dass diese Mädchen ebenfalls im Deutsch Leistungskurs waren. Das Mädchen mit den braunen Haaren und dem schwarzen Rock erblickte mich und forderte die anderen auf, ihr zu folgen. Mit langen grazilen Schritten näherten sie sich und ich richtete mich unwillkürlich auf. „Hey, du bist doch die Neue oder?“, fragte das braunhaarige Mädchen und zupfte ihren grauen Pullover zurecht. Bevor ich jedoch antworten konnte, redete sie einfach weiter. „Ich bin Patricia. Das neben mir sind Mila“, sie zeigte auf das blondhaarige Mädchen, „und Emma.“ Die dritte Schülerin lächelte mich freundlich an und warf ihre schwarzen, dichten Haare mit einer Kopfbewegung zurück. „Freut mich euch kennenzulernen. Ich bin Gerda.“                                                   Emma, Patricia und Mila setzten sich nun ebenfalls an den Tisch und durchlöcherten mich mit Fragen. „Woher kommst?“ „Was machst du in deiner Freizeit?“ „Wo wohnst du?“ „Hast du einen Freund?“            Ich hatte Mühe den Schwall an Fragen zu beantworten. Nachdem zwanzig Minuten vergangen waren, kam ich nun zu der Gelegenheit Fragen zu stellen. „Wisst ihr denn schon, was ihr nach der Schule machen wollt?“, fragte ich, bekam jedoch nur allgemeines Schulterzucken. „Keine Ahnung. Darüber habe ich mir noch nicht so viele Gedanken gemacht.“, meinte Mila und ihre Freundinnen nickten bestätigend. Ich holte meine Brotdose aus dem Rucksack und biss in die Stulle. Emma lehnte sich zurück und knabberte an ihrer Unterlippe. „Wir wollen uns dieses Wochenende in der Stadt treffen und ein bisschen shoppen gehen. Hast du Lust mitzukommen?“, fragte sie und musterte mich aus ihren haselnussbraunen Augen. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer. Am ersten Schultag wurde ich zu einem Treffen eingeladen! „Sicher. Ich muss nur meine Eltern fragen, ob sie Zeit haben mich zu bringen, aber das wird sicher kein Problem sein.“ „Super!“ Emma schnipst freudig mit ihren Fingern und richtete sich dann auf. „Wollen wir uns was zu essen kaufen?“, fragte sie und blickte in die Runde. Mila und Patricia nickten begeistert. Ich wiederum überlegte, ob ich noch etwas Wichtiges erledigen muss. Mir fiel jedoch Nichts ein, weshalb ich ebenfalls nickte und meine Schulsachen einpackte.                                                                                                             Auf dem Flur blieb Patricia plötzlich vor einem Plakat stehen. „Schaut mal! Die Schulband ruft zum Vorsingen auf. Sie suchen eine Sängerin für ihre Band.“                                                                                                     „Zeig mal.“, sagten Mila und Emma und begutachteten den Aufruf. „Tatsächlich! Sag mal Gerda, du singst doch gerne. Wie wäre es, wenn du da mitmachst?“, meinte Patricia aufgeregt und blickte mich auffordernd an. „Ich weiß nicht …“, entgegnete ich und ließ mir den Text durch. Doch die drei gaben nicht locker und überredeten mich schlussendlich. Ich seufzte ergeben und zuckte mit den Schultern. „Probieren geht übers Studieren.“                                                                                                               Emma und Patricia strahlten und zogen mich dann mit nach draußen, um einkaufen zu gehen. Mila folgte uns ebenfalls und die drei erzählten, wie aufgeregt sie wären, weil ich daran teilnehme. 

Montag, der 07.10.1991, Nachmittag

Genervt betrat ich den Bandraum, den wir seit es unsere Band „Deaf Wolves“ gab, fast jeden Nachmittag besetzten, und ließ meinen Rucksack auf den Boden fallen. Milan, Aaron, Will und Jaro waren bereits hier und saßen um den kleinen Holztisch in der Mitte des Raumes verteilt. Ich schnappte mir einen Sitzsack aus der Ecke, schob Will`s grob ein Stück beiseite und ließ mich plump in das weiche Kissen fallen. Ich spürte Will´s wütend funkelnden Blick in meiner Seite, doch es störte mich nicht im Geringsten. Milan hob den Blick von seinen Texten, die er in Vorbereitung auf unsere Aufführung bereits jetzt zu lernen begonnen hat, und fragte mich mit ernster Miene: „Hey Kumpel, du wirkst so griesgrämig, was ist los?“ Milan war der netteste, aufmerksamste und höflichste Mensch, den ich kannte. Eigentlich war es verwunderlich, dass er zu meiner Freundesgruppe gehörte, ja sogar mein bester Freund war. Ohne Frage war er der Offenste von uns fünf, aber auch der Nervtötenste. Ich blickte ihn nur missmutig an. „Mir scheint, als könntest du Ablenkung von irgendetwas gebrauchen?“ fügte Aaron Milans Frage hinzu. Er war der Stillste aus der Gruppe, was nicht hieß, dass er eine ruhige Seele war. Stöhnend atmete ich aus und blickte die Jungs, einen nach dem anderen, an. Dann sagte ich: „Dieses neue Mädchen geht mir total auf den Geist, schon seit ich ihr das erste Mal begegnet bin.“ „Welches neue Mädchen?“ fragte Jaro. Er war nicht, wie Aaron, Milan und ich, im Deutsch Leistungskurs und war ihr dementsprechend auch noch nicht begegnet. „Wir haben ein neues Mädchen, Gerda, im Leistungskurs.“ kam Milan meinem ansätzlichen Erklärungsversuch zuvor. „Und was ist schlimm daran?“ fragte Will. „Auf mich machte sie einen netten Eindruck.“ meinte Milan. „Auf mich nicht.“ grummelte ich. „Sie war letzten Donnerstag bei uns zum Abendessen, weil Mom mit ihrer Mutter befreundet ist. Ich habe noch nie jemand so arroganten wie sie gesehen. Sie hat das ganze Essen kein einziges Wort gesagt, geschweige denn irgendwen angesehen. Dazu kommt, dass sie von der anderen Seite kommt.“ Den letzten Teil des Satzes betonte ich extra abschätzig. Will sah mich an: „Sieh kommt von der anderen Seite?“ Noch während er sprach, verzog er angewidert sein Gesicht. „Ich kann verstehen, warum du sie nicht magst.“ „Ich nicht.“ warf Aaron ein. „Nur weil jemand von der anderen Seite kommt, heißt das doch nicht, dass er ein schlechter Mensch ist.“ Er zuckte mit den Achseln. Aaron hatte noch nie etwas gegen die DDR gehabt. Sein anstrengender neugieriger Geist erlaubte es ihm nicht, sich gegen irgendwas zu verschwören. Wahrscheinlich hat er das DDR-Mädchen während der gesamten Deutschstunde mit Fragen zu ihrem Leben jenseits der Mauer gelöchert. Geschieht ihr recht. Trotzdem ging es mir total auf den Sack, dass es ihn nicht im Geringsten zu stören schien, woher sie kam. Will war da, vernünftigerweise, komplett auf meiner Seite. „Du weißt schon, dass die Menschen dort einer kompletten Gehirnwäsche unterzogen werden, durchgehend beobachtet und belauscht werden und nicht mal frei reisen können, geschweige denn alles essen können, was wir haben? Die Leute von der anderen Seite sind manipulierte, naive, dumme Menschen, die sich unter sowjetischem Einfluss den Machenschaften des Kommunismus unterworfen haben.“ erklärte er an Aaron gewandt. Will sagte nicht oft schlaue Dinge, aber in diesem Punkt lag er total richtig. Bevor Aaron antworten konnte, wandte sich Jaro ein: „Das müssen wir doch nicht jetzt besprechen, oder? Immerhin stehen weitaus wichtigere Dinge auf dem Plan, wie zum Beispiel das Vorsingen zu planen, mit dem wir an eine Sängerin rankommen wollen.“ Fordernd blickte er in die Runde. Jaro war mit Abstand der Vernünftigste von uns, immer rational und strukturiert. Trotzdem war er loyal und auch wenn er, im Gegensatz zu uns anderen, noch nie in eine Schlägerei verwickelt war und auch sonstige Brutalität vehement ablehnte, war er immer dabei, wenn wieder ein kleiner Dreckskerl dachte er könnte es mit uns aufnehmen und wir ihm deswegen eine Lektion erteilen mussten. Ohne Jaro wären wir mit Sicherheit nicht mehr an dieser Schule, so oft wie er uns vor Verweisen und Strafen gerettet hat. Er war das komplette Gegenteil von Will, der immer der erste war, der zum Faustschlag ausholte oder kleine Kinder an ihrem Rucksack packte, wenn sie es auch nur wagten, ihn falsch anzusehen. Will war zwar nicht gerade der Hellste von uns und konnte weder mit meinen, noch Jaros Noten mithalten, trotzdem war er ein toller Freund und stehts für Abendteuer und Partys zu haben. Wir fünf waren schon seit Ewigkeiten beste Freunde, und nichts und niemand konnte uns jemals trennen. 
Ich schüttelte mich kurz, um mich aus meinen Gedanken zu befreien. Die anderen redeten bereits über unser Problem mit der fehlenden Sängerin. „Aiden hat mich am Donnerstag angerufen und vorgeschlagen, wir könnten ein Vorsingen veranstalten, um so jedem die Möglichkeit zu geben, sich für den Platz als Sängerin zu bewerben. Wir müssen dann einfach nur warten, und die beste auswählen.“ wiederholte Milan gerade. Zwar hatten wir schon zusammen besprochen, dass wir ein Vorsingen veranstalten wollten, aber Milan ist jemand, der alles gerne nochmals auf den Punkt brachte. „Ja, die Frage ist jetzt nur wann und wo wir das veranstalten.“ warf Jaro ein. „Wir könnten das Schultheater nutzen, bestimmt erlaubt uns der Direktor, es nachmittags zu mieten, wenn wir ihm zeigen, wie dringlich unser Problem ist, immerhin ist die Aufführung schon in wenigen Monaten.“ schlug Aaron vor. „Sehr gute Idee. Am besten Jaro übernimmt den Part, bei dem jemand von uns mit dem Direktor sprechen muss, immerhin habt ihr doch einen guten Draht zueinander, oder Direktorsöhnchen?“ fragte Will mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen. Jaro rollte mit den Augen, er konnte es noch nie leiden, wenn ihm jemand unter die Nase rieb, dass er der Sohn unseres Direktors war. Dennoch stimmte er zu, sich darum zu kümmern. „Ich habe heute bereits Flyer aufgehängt, die das Vorsingen ankündigen. Da steht drauf, dass Ort und Zeit zeitnah verkündet werden, sodass wir uns um die Werbung keine Gedanken mehr machen müssen.“ erklärte Milan. „Perfekt, jetzt fehlt also nur noch ein Datum.“ fasste Aaron zusammen und sah erwartungsvoll in die Runde. „Wie wäre es denn in einer Woche, also am 14.10.? Das wäre ein Montag, da ist das Schultheater doch immer frei, oder nicht?“ schlug ich vor. Die Jungs nickten zustimmend. „Eine Woche klingt gut. Auf den Flyern stand, dass sich jeder, der teilnehmen möchte, ein Lied aussuchen kann, und es dann vor uns als Jury performen muss. Wenn der Direktor zustimmt, uns das Theater zu überlassen, dann kann ich mich darum kümmern, eine Durchsage zu machen, bei der die letzten Informationen an die Schüler weitergegeben werden.“ fügte Milan hinzu. Damit hatten wir alles Wichtige besprochen und konnten endlich mit der Probe starten.

Am Abend ließ ich mich erschöpft in mein Bett fallen. Nach der Bandprobe bin ich direkt ins Fitnessstudio gegangen und mein Trainer meinte, er müsste heute besonders schwere Übungen mit besonders vielen Wiederholungen fordern. Mein ganzer Körper ächzte und schmerzte, während ich versuchte eine bequeme Liegeposition zu finden. Immerhin hatte Jaro vorhin angerufen und gesagt, dass sein Vater uns den Zutritt zum Schultheater gewährt, unter der Bedingung, dass wir, wenn wir fertig sind, alles wieder an seinen ursprünglichen Platz stellen. Auch wenn der Direktor meine Jungs und mich nicht sonderlich gerne mochte, war ihm die Schulband ziemlich wichtig. Sie war eins der Dinge, die unsere Schule bei vielen vergangenen Events repräsentierte und gut dastehen ließ. Er würde sehr viel tun, damit wir das weiterhin durchziehen können.

Samstag, der 12.10.1991

Liebes Tagebuch,die erste Schulwoche ist wie im Flug vergangen. Ich hatte ja zuerst die Befürchtung, dass ich eine Außenseiterin wäre. Jedoch ist genau das Gegenteil der Fall! Ich habe sehr schnell neue Bekanntschaften mit Schülern in meiner Klassenstufe gemacht und alle von denen sind sehr nett und aufgeschlossen. Patricia, Mila und Emma (die drei habe ich an meinem ersten Schultag kennengelernt) haben mich sogar gefragt, ob ich mit ihnen den Samstagnachmittag in der Stadt verbringe. Meine Mutter hat mich gefahren und ich muss sagen, dass, obwohl ich das Verschwenden von Geld in Städten eher kritisch betrachte, diese vier Stunden, die wir heute im Einkaufszentrum verbracht haben, sehr amüsant waren. Wir haben sehr viel gelacht und die drei haben es sich zur Aufgabe gemacht, mir ein Outfit herauszusuchen. Und ich muss echt sagen, sie haben das Talent für jede Person das perfekte Outfit zusammenzustellen. Patricia hat mich dann ständig über meinen Bruder ausgefragt. Ich glaube, sie ist in ihn verknallt. 

Jedoch gibt es nicht nur gute Neuigkeiten … Die Ursache, dass ich meistens genervt und wütend den Unterricht verlasse, ist Aiden! Ich wusste ja vom gemeinsamen Abendessen bei den Winters, dass wir auf dieselbe Schule gehen. Doch das wir in fast jedem verdammten Kurs gemeinsam Unterricht haben, hätte ich nicht gedacht! Allein seine Anwesenheit macht mich so wütend! Und ich verstehe nicht, warum ich ihn nicht einfach ignorieren kann. Das macht mich wahnsinnig! Naja, immerhin habe ich ja wenigstens ein paar Fächer, ohne ihn. Das sind die Stunden auf die ich mich wirklich freue. Anbei habe ich auch den Stundenplan aufgezeichnet. Die lila markierten Fächer sind die, wo ich kein Unterricht mit Aiden habe, sozusagen ein Grund, um sich ein bisschen zu freuen.                                                                                  So, genug über diesen Hochstapler geredet. 

Montag, der 14.10.1991

Heute war der Tag des Vorsingens. Den ganzen Vormittag lang ging mir nichts anderes durch den Kopf. Es war unsere einzige und letzte Chance, eine Sängerin für unsere Band zu bekommen. Ohne eine weibliche Stimme in Kontrast zu Milans, würde keins unserer Lieder wirklich perfekt klingen. Nervös strich ich mir mit der Hand durch meine Haare. Wir waren schon seit einer gefühlten Ewigkeit hier im Theaterraum, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Die Kandidatinnen befanden sich in dem kleinen Raum hinter der Bühne und warteten auf ihren Einsatz. Aaron, der den Mädchen den ganzen Ablauf erklärt, ihre Startnummer gegeben und genaue Anweisungen eingetrichtert hat, kam gerade durch den Vorhang geschlüpft. „Wir haben insgesamt 40 Teilnehmerinnen jeden Alters. Das wird ein langer Nachmittag.“ Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Dann hoffen wir mal, dass eine von denen halbwegs Talent hat und aufnahmewürdig ist.“ meinte Will. Uns allen war bewusst, dass die meisten, die heute hier waren, nur gekommen sind, weil unsere Band mehr oder weniger das Aushängeschild der Schule war und wir somit die Coolsten an der Schule waren und jeder will doch zu den Coolen gehören, oder etwa nicht? Jaro kam rein, einen großen Stapel Zettel in der Hand. Er reichte jedem von uns ein paar und sagte: „Das sind die Bewertungsbögen. Jeder von uns trägt da ein, wie er die Teilnehmerin fand und gibt ihr Punkte auf einer Skala von 0-100. Falls wir uns nachher nicht einigen können, wen wir nehmen, dann schauen wir einfach, wer insgesamt die meisten Punkte bekommen hat und diejenige wird dann die neue Sängerin.“ Ich nahm meine Zettel in die Hand. Auf jedem war Platz für Name, Liedtitel und Punkte einer Kandidatin, sowie ein paar Zeilen für zusätzliche Notizen. „Das klingt nach einem Plan.“ meinte Milan. „Dann lasst uns jetzt anfangen und es hinter uns bringen.“ Er schnappte sich das Mikrophon vom Tisch und rief laut die erste Kandidatin auf. Wir anderen nahmen auf unseren Stühlen platz, sodass wir einen perfekten Blick auf die Bühne hatten, auf die gerade ein relativ junges, ich schätze ungefähr 8.Klasse, schwarzhaariges Mädchen trat. Nervös umklammerte sie ihr Mikrophon. „Hey!“ grüßte Jaro. „Sag uns bitte deinen Namen und das Lied, das du singen möchtest, bevor du anfängst.“ Er lächelte sie aufmunternd an. „Ich-Ich heiße Rina und möchte „Please Don´t Go“ von Double You singen.“ Aaron gab Ronn, ein Freund aus unserem Musikkurs, der uns bei der Musik half, ein Zeichen, damit er die Karaoke-Version des Liedes raussuchte und startete. „Dann zeig uns, was du kannst.“ sagte Milan aufmunternd. Ich wusste jedoch bereits, ohne dass sie überhaupt angefangen hatte, dass sie definitiv nicht unsere Sängerin werden würde. Sie war viel zu nervös, und dass, obwohl sie heute nur 6 Zuhörer hatte, wie sollte das erst vor einer großen Menschenmenge aussehen? Trotzdem bekam sie ihre Chance. Sie begann zu singen und ihre Stimme zitterte leicht bei den ersten Tönen. Trotzdem war ihr Gesang war nicht schlecht, auch wenn sie ein paar der Töne nicht traf. Zu ihrem Pech war ihre Stimme viel zu piepsig, als dass sie zu Milans passen würde, sodass, selbst wenn sie nicht schon wegen ihrer Nervosität nicht in Frage kam, spätestens ihre Stimme sie aus dem Rennen warf. Als sie fertig war, applaudierten wir höflich und Aaron sagte: „Vielen Dank, für deine Teilnahme Rina, wir werden uns besprechen und morgen bekommst du dann die Info, ob du es geschafft hast, oder nicht.“ Sie lächelte zögerlich und stürmte dann so schnell wie möglich von der Bühne. „Wie sind uns alle einig, dass sie es nicht sein wird, oder?“ fragte Will, nachdem sie außer Hörweite war. „Japp.“ stimmte ich zu. „Sie ist viel zu scheu, sie würde glatt umkippen, wenn sie sähe, wie groß das Publikum sein wird, vor dem sie performen müsste.“ „Wir haben ja noch 39 anderen, irgendwer wird schon dabei sein, der singen kann und nicht so ängstlich ist.“ meinte Milan. Aber auch unter den nächsten 15 Mädchen, die sangen, war keine dabei, die halbwegs geeignet war. Das Ganze begann mich langsam zu nerven. Ich weiß, mein Geduldsfaden ist ziemlich kurz, aber trotzdem. An allen gab es irgendetwas auszusetzten, sei es die Art der Performance, das Talent oder der Mensch an sich. Eine ist, während sie gesungen hat, wie ein Frosch über die Bühne gehüpft und dabei mehrmals über ihre eigenen Füße gestolpert, die Nächste traf keinen einzigen Ton und wiederum die nächste war eine eingebildete Zicke. „Die Nächste bitte.“ rief Milan. Ein blondes Mädchen betrat die Bühne. Sie war groß und schlank und die Art wie sie lief wirkte sehr anmutig. Sie hatte definitiv das Aussehen eines Bühnenstars, dass musste ich ihr lassen. Hoffnungsvoll richtete ich mich in meinem Stuhl auf, vielleicht kam jetzt endlich mal eine würdige Kandidatin. „Wie heißt du und was möchtest du singen?“ fragte Aaron. Auch ihm merkte man an, dass er leicht gereizt war, trotzdem fand ich es bemerkenswert, dass er immer noch ein höfliches Lächeln zustande bekam. Genau aus diesem Grund überließen wir ihm und Jaro das Reden, sie waren mit Abstand die Höflichsten von uns. „Ich heiße Bianca und würde „Ride the Bullet“ von Army of Lovers singen.“ verkündete sie mit selbstbewusster Stimme. „Ein sehr schönes Lied. Viel Glück.“ ermutigte Jaro sie und Ronn startete die Musik. Biancas Stimme war hell, aber nicht piepsig. Ihr selbstbewusstes Auftreten gab ihr in meinen Augen ebenfalls einen Pluspunkt. Ihre Performance war ziemlich gut. Die anderen Jungs schienen das ähnlich zu sehen. In Aarons Augen sah ich Hoffnung aufflammen, Milan saß wieder aufrechter, Jaro lächelte leicht und Will grinste. Ich wettete, dass er sich bereits jetzt überlegte, wie er an sie rankommen könnte. Spätestens, wenn das Vorsingen vorbei ist, wird er uns volllabern, dass er sich in sie verliebt habe und der ganze Quatsch, so war er immer. Ich konzentrierte mich wieder auf ihren Gesang. Als Bianca fertig war, applaudierten wir laut und auch sie bekam von Jaro die Information, dass wir ihr Morgen bescheid geben würden, ob sie dabei war oder nicht. Zumindest standen ihr Chancen seht hoch, wenn jetzt nicht noch, wie ein Wunder, irgendwer kam, der sang wie ein Engel auf Erden, aber das bezweifelte ich ganz stark.

Wie erwartet waren die folgenden Sängerinnen nicht annähernd so gut, wie Bianca. Mir war das eigentlich ziemlich egal, da wir ja schon längst wussten, wen wir nehmen würden, aber die Tatsache, dass wir trotzdem noch hier sitzen mussten ging mir ziemlich auf die Nerven, dass war reine Zeitverschwendung. Dazu kam, dass vorhin ein Mädchen vor Nervosität umgekippt war und wir sie erstmal ins Krankenzimmer schleppen mussten. Ich verstand nicht, wie man so schwache Nerven haben konnte, es war ja nun wirklich kein großes Publikum, es ging auch nicht um Leben oder Tod, warum waren dann viele so sensibel? Das wollte nicht in meinen Kopf rein. „Wir haben noch eine Kandidatin, dann ist es geschafft.“ verkündete Milan und man sah ihm deutlich die Erleichterung an, dass es bald vorbei war. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der keine Lust mehr hatte. „Müssen wir sie noch singen lassen?“ fragte ich. „Ich meine, wir haben doch schon jemanden, wir könnten einfach sagen, dass es nicht mehr nötig ist, sie anzuhören?“ Jaro schüttelte den Kopf. „Der Direktor hat gesagt, wir müssen uns alle Kandidatinnen anhören. Es ist ja nur noch eine einzige, dass halten wir jetzt auch noch durch.“ Enttäuscht rutschte ich ein Stück tiefer in meinem Stuhl. „Meinetwegen.“ murrte ich. „Die nächste bitte.“ rief Milan und als das Mädchen auf die Bühne kam fiel mir beinahe die Kinnlade runter. Dort stand niemand geringeres als Gerda. Für ihre kleine, quirlige Gestalt wirkte die Bühne viel zu groß. Sie hatte ihre Haare zu einem Dutt zusammengebunden, aus dem sich bereits die ersten Strähnen lösten und selbst aus der Entfernung konnte ich ihre smaragdgrünen Augen leuchten sehen. Warum war sie hier? Sie ist bestimmt keine Sängerin, diese Art von Kreativ-sein passt nicht zu den Menschen von der anderen Seite „Sag uns bitte deinen Namen und welches Lied du singen möchtest.“ bat Jaro. „Ich heiße Gerda und möchte gerne „Take on me“ von A-Ha singen.“ sagte sie lächelnd. Ich biss meine Zähne aufeinander, dieses Lied ist eines meiner Lieblingslieder, mein Großvater hatte es mir vorgespielt und es erinnerte mich jedes Mal an unsere gemeinsamen Zeiten. Ich blickte zu Will, um seine Reaktion zu sehen und auch er schien wenig begeistert zu sein, dass sie hier war. Erleichterung stieg in mir auf. Wenn weder Will noch ich sie in der Band haben wollten, dann konnte sie noch so gut singen und würde es trotzdem nicht schaffen. Bianca schien also die neue Sängerin zu werden und damit konnte ich mich definitiv abfinden und Will erst recht. Ronn startete die Musik und Gerda begann zu singen. Eine wunderschöne engelsgleiche Stimme durchzog das Theater und drang in jede Ecke. Es war, als würde sie, auch wenn sie so klein war, das gesamte Theater einnehmen und mit ihrem Gesang füllen. Ihre Stimme fand ihren Weg tief in mein Innerstes und ließ meine Haut prickeln. Ohne, dass ich es wollte, richtete ich mich auf, als würde ihre Stimme mich verzaubern. Ich konnte nichts dagegen tun, ich war völlig in ihren Bann gezogen. Ich habe noch niemals jemanden so wunderschön singen hören, so glockenhell und gleichzeitig auch irgendwie tief und ruhig. Mein ganzer Körper entspannte sich und meine schlechte Laune war wie weggeblasen. Ich blickte zu den anderen. Auch sie waren völlig überwältig von Gerdas Gesang. Als sie fertig war, war es totenstill im Theater. Das eben Passierte mussten wir erst vollständig verarbeiten, doch dann fingen Jaro, Milan, Aaron und sogar Will lautstark an zu applaudieren. Nach kurzem Überlegen stimmte auch ich mit ein, wenn auch nicht ganz so begeistert. So genial sie auch gesungen haben mag, ich realisierte, dass es immer noch Gerda war, das Mädchen von der anderen Seite und ich konnte und wollte sie nicht in der Band haben. Ihr Gesang mag mich für kurze Zeit überwältigt haben, doch jetzt hatte ich mich wieder gefangen. Nachdem sie gegangen war, sagte Jaro: „Ich denke wir sind uns alle einig, dass Gerda unsere neue Sängerin werden wird, oder?“ Milan und Aaron nickten begeistert. „Sie passt perfekt auf meiner Stimme.“ sagte Milan grinsend und Will fügte hinzu: „Ich habe noch nie in meinem Leben jemanden getroffen, der so wahnsinnig gut singen kann, sie muss einfach in die Band.“ „Echt jetzt Will?“ platzte ich heraus, der Ärger in meiner Stimme war nicht zu leugnen. „Dir ist bewusst, wer sie ist, oder? Du willst wirklich so jemanden in der Band haben??“ „Entspann dich Kumpel, ich weiß genau wer sie ist, aber hast du nicht zugehört? Wir würden uns selbst ins Bein schießen, wenn wir sie nicht nehmen.“ konterte er. Ich wusste, dass er recht hatte und trotzdem wollte ich es nicht einsehen. „Wir könnten auch Bianca nehmen, sie war auch sehr gut und du kannst mir nicht erzählen, dass du sie nicht gerne in der Band haben willst.“ warf ich ein und mir war dabei sehr gut bewusst, dass Bianca nicht mal annähernd mit Gerda mithalten konnte, aber ich wollte es nicht wahrhaben, dass ausgerechnet sie in unsere Band kommen sollte. „Du weißt genauso gut, wie wir alle, dass Bianca keine Option ist.“ sagte Jaro kühl, bevor Will reagieren konnte. „Komm schon Aiden, ich weiß, dass du sie nicht leiden kannst, aber gib ihr eine Chance, vielleicht ist sie ja gar nicht so schlimm, wie du denkst. Ihre Stimme ist jedenfalls hammermäßig.“ versuchte Milan mich zu überzeugen und ich konnte das Funkeln in seinen Augen sehen. Widerwillig willigte ich ein, aber nicht ohne demonstrativ meine Augen zu verdrehen. Mir war klar, dass sie die einzig sinnvolle Option war und ich keine Chance hatte, alleine gegen meine ganze Band zu stimmen. Natürlich musste Gerda sich auch noch in den wichtigsten Part meines Lebens einmischen, was hätte ich anderes erwarten sollen?

Mittwoch, der 16.10.1991

Der Volleyball sauste durch die Luft und prallte auf das Feld der gegnerischen Mannschaft. Aaron, der für das Spiel als Schiedsrichter zugeteilt worden war, bedeutete Mila neben ihm, den Punktestand zu aktualisieren. „Verdammt Hannes! Warum bist du nicht an den Ball gegangen!?“, schrie Kasper seinen Mitschüler an. Dieser blitzte ihn wütend an und konterte. Aiden ging zwischen die beiden und herrschte sie an, dass sie sich verdammt nochmal zusammenreißen sollten. Ich versuchte den Streit zu ignorieren und schaute zu meiner Mannschaft. Claudia wurde von den anderen abgeklatscht und für den Treffer gelobt. Ich hoffte inständig, dass das Spiel zu Ende ging. Denn meine Arme waren schon rot und pochten vor Schmerz.                                  Als hätte Aaron meine Gedanken gehört, pfiff er das Spiel ab. Meine Teamkameraden klatschten sich gegenseitig ab und feierten den Sieg.                        „Du hast gut gespielt.“, meinte Patricia zu mir. Ich senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern, um möglichst neutral zu wirken. „Wir alle haben gut gespielt und zum Sieg beigetragen.“, erwiderte ich und wich dem spielerischen Schlag meiner Freundin aus. „Warum nimmst du dieses ehrlich gemeinte Kompliment einfach nicht an?“, fragte sie lachend und schüttelte verständnislos den Kopf. Ich schmunzelte und warf ihr einen schelmischen Blick zu. Während wir die Tribüne ansteuerten, gesellte Emma sich zu uns.                   „Alles in Ordnung, Emma?“, erkundigte ich mich, da sie einen niedergeschlagenen Eindruck machte. Sie seufzte. „Ich wäre so gerne in eurem Team gewesen. Bei uns hat es überhaupt keinen Spaß gemacht. Ihr hingegen wart so losgelassen.“, beklagte Emma sich und stieß frustriert die Luft aus. Ich legte meinen Arm um sie und flüsterte ihr aufmunternde Worte zu. Emma musste schmunzeln und bedachte mich mit einem dankbaren Blick. Herr Peßler, unser Sportlehrer, rief uns alle zu sich und plante, was wir in den nächsten Wochen machten. Während seiner Anrede bemerkte ich Aiden, der lässig an der Wand lehnte und sich mit Milan und Will unterhielt. Seine schwarzen Haare fielen ihm wirr ins Gesicht und es widerstrebte mir zu zugeben, dass dieses Chaos auf dem Kopf ihn in keiner Weise unattraktiver machte. Ich biss mir auf die Unterlippe und hätte mich am liebsten geohrfeigt. Warum dachte ich so etwas? Aiden war ein arroganter, selbstverliebter Hochstapler! Ich gab ein leises Schnauben von mir wofür ich neugierige Blicke von Mila, Emma und Patricia erntete. Mit einem unschuldigen Lächeln tat ich so, als ob nichts wäre und hörte unserem Lehrer zu.                                                               Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, beendete Herr Peßler den Unterricht und schloss die Umkleiden auf. Fünf Minuten später verließ ich sie samt meinen Sachen wieder. „Ich werde nie verstehen, warum sich alle mit so viel Deo einsprühen.“, murmelte ich zwischen zwei Hustanfällen. Ich kramte meine Wasserflasche hervor und nahm ein paar Schlucke. Dabei fiel mein Blick auf eine große, schlanke Gestalt, die an der weißen Wand lehnte. Ich unterdrückte ein Stöhnen. Es war Aiden. Genervt wollte ich an ihm vorbeigehen, doch er stieß sich von der Wand ab und hinderte mich so daran. Ich öffnete schon den Mund für eine bissige Bemerkung, als er mir einen Zettel vor die Nase hielt. „Hier. Sei pünktlich, verstanden?“, brummte er kurz angebunden. Irritiert schaute ich auf den Zettel und vergaß dabei meinen Mund wieder zu schließen. Aiden gab ein genervtes Knurren von sich und verdrehte die Augen. „Ja du guckst richtig! Du bist jetzt in der Band. Kein Grund so zu reagieren!“ Mein Unglauben verwandelte sich in Wut, doch bevor ich Aiden mit wüsten Beschimpfungen konfrontieren konnte, war er schon davongeeilt.                                                                                                   Ich schluckte meine Wut hinunter und inspizierte den Zettel genauer. Es war eine Bestätigung, dass ich in die Band aufgenommen wurde, mit der Information, wo und wann die Bandproben stattfanden. Die erste sollte heute um 15:30 Uhr beginnen. Ich war überrascht, dass ich, obwohl Aiden in der Band und sicher gehen meine Aufnahme war, trotzdem ausgewählt worden war. Als ich am Montag auf der Bühne stand und Aiden am Jury-Tisch gesehen habe, habe ich mich innerlich schon von der Vorstellung verabschiedet, Mitglied der Band zu werden.                                                                                „Was stehst du denn hier im Flur herum?“, fragte Patricia, die gerade aus der Umkleide kam. Ich hielt den Zettel in die Höhe und meinte: „Ich wurde in die Band aufgenommen.“ Die Augen meiner Freundin wurden groß und sie brach in einen lauten Freudenschrei aus. „Das ist doch großartig!“ „Ja, sicher.“, murmelte ich und versuchte mich an ein Lächeln.

***

Nach dem Unterricht ging ich den Flur entlang, auf der Suche nach dem Bandraum. Nach drei Minuten fand ich ihn schließlich. Mit einem Blick auf die Uhr, stellte ich zufrieden fest, dass ich pünktlich war. Es gab also keinen Grund, warum Aiden verärgert sein könnte. Er wird trotzdem etwas finden, weshalb er sich aufregen kann, dachte ich und klopfte an die Tür, ehe ich den Raum betrat. Der Bandraum hatte einen Parkettboden und Backsteinwände, die mit verschiedenen Postern geschmückt waren, welche unterschiedliche Bands und Sänger zeigten. Rechts von mir befand sich eine Sitzecke mit sieben schwarzen Sitzsäcken. Es gab sogar eine kleine Bühne, wo alle Instrumente standen.         Milan, Aiden, Aaron und Will hatten es sich bereits in der Sitzecke gemütlich gemacht. „Hey!“, begrüßte ich sie und ließ mich in den Sitzsack neben Aaron nieder. Dieser wiederum erwiderte meine Begrüßung mit einem freundlichen Lächeln. Milan blickte von seinen Notizen auf und schenkte mir ebenfalls ein Lächeln. „Hallo. Schön, dass du da bist.“, sagte er. Will nickte mir leicht zu. Nur Aiden zeigte keine Reaktion und las in einem Buch. Ich versuchte es zu ignorieren und auf die leichte Schulter zu nehmen. Es gelang mir jedoch nicht.                                                                                                        „Sorry, für die Verspätung! Ich musste noch etwas mit meinem Vater besprechen.“, sagte Jaro, als er in den Raum stürmte.                                               Aiden klappte sein Buch zu und verstaute es im Rucksack. „Kein Ding.“, erwiderte er und blickte in die Runde. Dabei war seine Missgunst über meine Anwesenheit nicht zu übersehen. Auch wenn er es versuchte, zu verbergen. „Dann lasst uns mit den Planungen anfangen.“, schlug Aiden vor und nickte Milan zu. Dieser räusperte sich und weihte alle in die Ideen für den Auftritt ein. 

***

Am Ende des Treffens verabschiedete ich mich von allen und packte meinen Text, den ich von Milan bekommen hatte, in meinen Rucksack. Für mein Empfinden lief die Bandprobe ziemlich gut, wenn man die Spannung zwischen mir und Aiden außer Acht ließ. Gut gelaunt ging ich zum Parkplatz, wo meine Mutter bestimmt schon auf mich wartete. Als ich draußen war, hielt ich nach unserem Auto Ausschau, doch ich fand es nicht. „Das ist ja komisch. Steht sie vielleicht im Stau?“, fragte ich mich und betrachtete ratlos den Parkplatz. Ein plötzliches Hupen ließ mich zusammenfahren. „Gerda!“ Ich schaute zu einem roten Geländewagen und wer da ausstieg verwunderte mich zunächst. Es war Aidens Mutter. Ihr zierlicher, kleiner Körper und die auffallenden bunten Klamotten fielen mir sofort ins Auge. Ich ging zu ihr und erkannte, dass sie wieder dieselben Ohrstecker trug wie beim Abendessen. Die kurzen, dunkelbraunen Haare hatte trug sie wie immer offen. „Hallo, Frau Winter.“, sagte ich. „Nenn mich bitte Adele.“, entgegnete sie und umarmte mich herzlich. Ich war etwas überrumpelt, erwiderte die Umarmung jedoch. Bei näherem Betrachten ihres Gesichts, fiel mir auf, dass sie ebenfalls wie Aiden viele Sommersprossen hatte. „Silke ist kurzfristig etwas dazwischengekommen, weshalb sie dich nicht abholen konnte. Deswegen fahre ich dich heute nach Hause.“, erklärte Adele mir und legte meinen Rucksack auf die Rückbank. „Äh … danke.“, stotterte ich. „Mom!“ Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Aiden stand hinter mir und schaute missbilligend zwischen mir und Adele hin und her. „Hallo Schatz! Wir nehmen Gerda heute mit, da ihre Mutter sie nicht abholen kann.“, begrüßte sie ihn fröhlich.                                                  „Aha.“, sagte er und kniff die Augen zusammen. „Steigt ein!“, forderte Adele uns auf und setzte sich hinter das Lenkrad. Aiden nahm auf dem Beifahrersitz Platz und ich auf der Rückbank. Schweigend fuhren wir Richtung Stadt Zentrum. „Das ist aber nicht der Weg nach Hause.“, bemerkte Aiden nach einer Weile misstrauisch, als seine Mutter nach links abbog. „Ich muss noch einkaufen. Deshalb fahren wir noch vorher zum Supermarkt.“, antwortete sie. Aiden stöhnte und ließ seinen Kopf gegen die Lehne fallen. „Ich habe aber keine Lust, Mom. Außerdem muss ich noch etwas für die Schule machen!“, widersprach er und blickte seine Mutter grimmig an. Ich räusperte mich. „In meinen Zeitplan würde dieses Vorhaben ebenfalls nicht passen.“                       Adele legte ihre Stirn in Falten. „Dann lasse ich euch gleich raus und ihr lauft die letzten Minuten nach Hause.“, schlug sie vor. Aiden brummte missmutig. „Besser als nichts.“ Ich nickte ebenfalls und Adele ließ uns zehn Minuten später aussteigen. „Kommt gut nach Hause! Und Aiden, du passt auf Gerda auf.“, rief Adele, ehe sie losfuhr. Mir missfiel der Gedanke, dass Aiden auf mich aufpassen sollte. Jedoch blieb mir mehr oder weniger nichts anderes übrig, als mit ihm gemeinsam nach Hause zu gehen, da ich den Weg nicht kannte.                                                                                                              Die ersten zehn Minuten liefen wir schweigend hintereinander. Ich hatte große Mühe, mit Aidens Schritttempo mitzuhalten, da er keine Rücksicht auf mich nahm. Er machte auch nicht die Anstalten langsamer zu werden. „Könntest du bitte nicht so rennen?“, bat ich ihn, als der Abstand zwischen uns immer größer wurde. Aiden drehte sich genervt um. „Ich kann nichts dafür, wenn du so unsportlich bist!“, schleuderte er mir entgegen. Ich schnappte empört nach Luft. „Was stimmt denn nicht mit dir!? Ständig äußerst du gegenüber mir solche unangebrachten Kommentare! Was habe ich dir denn getan?“, erwiderte ich zornig. Ich merkte, wie ich meine Hände zu Fäusten geballt hatte, und versuchte mich zu entspannen. Doch bei Aiden war dies unmöglich.                          Aiden schnaubte. „Ganz einfach: Du bist einfach in mein Leben geplatzt und verseuchst es! Egal wo ich bin, oder mit wem ich meine Zeit verbringe: ständig bist du da und ruinierst alles!“, knurrte er. Ich war total sprachlos. Wie kam er dazu, so etwas zu denken? Geschweige denn zu sagen? „Oh tut mir aufrichtig leid, dass ich lebe! Was soll ich denn deiner Meinung machen? Denkst du, ich habe mir ausgesucht, dass wir Nachbarn sind oder unsere Mütter sich kennen?“, schrie ich ihn an. Ein paar Passanten glotzten uns beim Vorbeigehen neugierig an, doch das war mir im Moment sowas von egal. Aiden wollte darauf etwas erwidern, doch ich ließ ihn nicht. Stattdessen fuhr ich fort: „Und warum verdammt noch mal, hast du so einen Hass gegen mich? Was tue ich denn, dass ich dich so verärgere?“ Mein Kopf glühte förmlich, wie eine Lampe, die zu lange leuchtete.                                                                    Aiden reckte das Kinn und trat einen Schritt näher. „Das Problem ist, dass du von der anderen Seite kommst. Ihr seid so naiv und dumm, sodass ihr, ohne etwas zu unternehmen euch den Kommunismus verschworen habt. Und nun da es keine Grenze mehr gibt, denkt ihr, ihr könnt euch einfach bei uns ausbreiten. Die Aufbauhilfe, die wir euch zukommen lassen, nehmt ihr wie selbstverständlich hin!“                                                                                      „Ach ja? Ihr Wessis seid doch kein Stück besser! Ihr baut unser ganzes System um, ohne auch nur zu berücksichtigen, was das für negative Auswirkungen für die Bewohner dort hat. Ihr stellt euch als den Eroberer und Sieger da! Ihr seid ja so toll und wir so dumm und undankbar! Euch ist doch nur der Wohlstand wichtig!“ Bei jedem einzelnen Wort verringerte ich den Abstand zwischen uns, bis nur noch wenige Zentimeter uns trennten. Tränen stiegen mir in die Augen. „Verdammt Aiden! Warum verurteilen wir uns zu Unrecht?“, fragte ich mit zittriger Stimme und schlug leicht gegen seine Brust. Aidens Gesichtsausdruck verzerrte sich. Ich wusste nicht ob ich da Hass sah oder etwas anderes, mir war es jedoch auch egal. Wortlos stürmte ich an ihm vorbei und wischte mir die Zornestränen von den Wangen. Aiden folgte mir und überholte mich wieder nach einer Weile. Er blieb jedoch immer in meiner Sichtweite. Wahrscheinlich, weil er sonst Ärger von seiner Mutter bekam, falls ich mich verlief.                                                                             Nach ungefähr zwanzig Minuten hatten wir das Künstlerviertel erreicht und ich rannte die letzten paar Meter nach Hause. Dort angekommen ließ ich die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen, warf meine Schuhe achtlos auf den Boden und polterte die Treppen hoch. In mein Zimmer schloss ich die Tür ab, vergrub meinen Kopf in das Kissen und schrie mir die Seele vom Leib. Als ich damit fertig war, drehte ich mich auf den Rücken und starrte die Zimmerdecke an. „Was soll ich nur tun?“, flüsterte ich und schloss die Augen.

Donnerstag, der 17.10.1991

Ich stand vor dem kleinen, bunten Häuschen, in dem ich viele Stunden meiner Kindheit verbracht hatte. Die braune Fassade bröckelte, die Farbe der verzierenden Malereien, die alle möglichen Geschichten erzählten, war an manchen Stellen bereits ausgeblichen und das Unkraut im großen Garten hatte die Überhand über alles anderen Pflanzen gewonnen. Ich liebte dieses Haus, auch wenn es von außen aussah, als würde es jeden Moment in sich zusammenbrechen. Vorsichtig drückte ich das grüne Gartentor auf. Ein lautes quietschen kündigte meine Anwesenheit an. In Gedanken setzte ich „Gartentor Ölen“ auf die Liste mit Dingen, die ich unbedingt demnächst erledigen muss. Ein schmaler Pfad schlängelte sich um das Haus herum, durch den überwucherten Garten bis zu einer alten, hölzernen Haustür, deren Knauf ich vor einigen Tag zum x.-Mal wieder festgeschraubt hatte. Eine Klingel gab es nicht, weshalb ich einmal laut an die Tür klopfte, kurz wartete und dann den Knauf drehte, um die Tür zu öffnen. Wie erwartet, war sie nicht verschlossen, sie war nie verschlossen. Ich trat in den schmalen, langen Flur. Die grünen, mit Blättern und Bäumen bemalten Wänden vermittelten den Eindruck, als befände ich mich direkt in einem Urwald. Am Ende des Flures bog ich um die Ecke, legte den Beutel mit Lebensmitteln, die ich zuvor gekauft hatte, auf den breiten Tisch in dem offenen Raum und begann darin herum zu wühlen, bis ich die Tafel Minzschokolade fand. Ich zog sie heraus und steckte sie in die Tasche meines Pullovers. Dann trat ich durch den offenen Türbogen auf der gegenüberliegenden Seite, der mich direkt in den schönsten Raum des ganzen Hauses führte: Das Wohnzimmer. Wie erwartet saß Inge in ihrem kleinen Atelier, vor der runden Fensterfront. Sie war komplett vertieft in ihre Malerei und schwang den Pinsel, der fast so lang war, wie ihr Arm über die bereits kunterbunte Leinwand. Inge war sozusagen meine Großmutter, aus wenn wir nicht blutsverwandt sind oder gemeinsame Familie haben. Seit ich klein war, hat sie für mich die Rolle der Großmutter übernommen, die ich nie hatte. Ich habe sie regelmäßig besucht, mit ihr Ausflüge gemacht oder mit von ihr zeigen lassen, wie man malt. Je älter sie wurde, desto weniger konnte sie sich bewegen, sodass ist sie jetzt an einen wunderschönen, geschwungenen Gehstock gebunden ist, der genauso bunt ist, wie das restliche Haus. Mit ihren 82 Jahren ist sie trotzdem immer noch fit, malt regelmäßig, kocht selbst und hält die Malereien an ihrer Außenfassade, so gut es für sie möglich ist, in Stand. Ich trat neben sie, tippte ihr auf die Schulter und lächelte, als sie sich langsam, ohne sich zu erschrecken, umdrehte. „Lass mich raten, du wusstest schon längst, dass ich hier bin?“ fragte ich sie lachend. Obwohl sie so alt war, hat sie ein Gehör wie eine Fledermaus, mit Sicherheit war ihr meine Anwesenheit bereits bewusst, als ich das Gartentor geöffnet habe. Inge lächelte nur, dann fiel ihr Blick auf meine ausgebeulte Pullovertasche und ihr Lächeln wurde breiter. Natürlich wusste sie sofort, dass sich darin ihre absolute Lieblingsschokolade befand. Ich zog sie hervor und reichte sie ihr. „Ohh das ist aber sehr aufmerksam von dir, mein lieber.“ sagte sie freundlich und ich stellte zufrieden fest, dass ihre Stimme nicht mehr so sehr zitterte, wie gestern. „Setz dich doch, mein lieber.“ forderte Inge mich auf und deutete mit ruhiger Hand auf den Esstisch vor der Fensterfront. Ich schüttelte kurz den Kopf. Sie legte ihren Pinsel beiseite, griff nach ihrem Gehstock und wollte aufstehen. Ich beeilte mich, ihr zu helfen, bevor wir zusammen zum Tisch gingen und sie sich setzte. „Ich gehe uns etwas Tee und Kekse holen.“ verkündete ich. „Ich habe im kleinen Schrank neben dem Kühlschrank noch einen Apfel-Zimt-Kuchen, mein lieber.“ sagte Inge und ich konnte in ihrem Blick sehen, dass sie am liebsten selbst gehen würde, doch sie wusste mittlerweile, dass ich nicht mit mir diskutieren lasse: Wenn ich da bin, muss sie nichts tun und Punkt. Ich ging durch den Türrahmen neben dem Atelier, in dem die Tür schon seit ich denken fehlt und gelange direkt in die offene Küche. Hier herrschte das totale Farbchaos, alles hatte eine andere Farbe und Form, nichts passte zusammen und die Schränke gingen schräg an den Wänden. Ich setzte heißes Wasser in einem Wasserkocher auf, das einzig elektrische Gerät neben der Mikrowelle, in diesem Haus, wenn man Lampen nicht mitzählt. Ich holte eine Dose Kekse aus einem pinken Schrank und den Kuchen aus dem kleinen, grünen Schrank neben dem dunkelblauen Kühlschrank. Dann goss ich den Tee auf und trug alles zurück ins Wohnzimmer. Als ich mich gerade setzten wollte, sagte Inge: „Aiden, mein Lieber, bitte doch das hübsche Mädchen hinein, sie soll uns beim Tee Gesellschaft leisten.“ Sie deutete mit dem Kopf zum Fenster und ich viel vor Überraschung fast nach vorne. Vor dem Fenster stand Gerda und betrachtete verträumt das Haus. Mein Inneres war sofort wieder ein Chaos an Gefühlen, Hass mischte sich mit etwas, dass ich nicht benennen konnte uns stiegt zusammen mit meiner aufkochenden Wut in mir auf. Warum war sie hier? Was wollte sie vor dem einzigen Haus, vor dem ich sie niemals sehen wollte? Zugegeben, wie sie dastand, die blond-braunen Haare flogen dachte im Wind und die goldenen Strahlen der Abendsonne ließen sie aussehen wie ein Engel. Innerlich ohrfeigte ich mich für diesen Gedanken, und ging mit einem kurzen Nicken zur Haustür. Sobald ich das Haus verlassen hatte, atmete ich hörbar aus. Ich hatte es nicht gewagt, Inge zu hinterfragen, ich hätte sowieso keine Antwort bekommen, trotzdem interessiert mich brennend, warum sie ausgerechnet Gerda zu Tee und Keksen einladen musste. Als ich beim Gartentor angekommen war, rief ich laut Gerdas Namen. Sie erschrak sich so sehr, dass sie das braune Buch, welches sie schon bei unserer ersten Begegnung mit sich rumschleppte, fallen ließ. Für einen kurzen Moment stieg Schadenfreude in mir auf, die ich aber sofort wieder verdrängte, da Gerda auf mich zu kam und ich mich bemühen musste, einen möglichst gefühlskalten Blick aufzusetzen. Gerda blieb vor mir stehen und blickte zu mir auf. Wie gebannt starrte ich auf die hellblonde Strähne, die vor ihrem zierlichen Gesicht baumelte und die vielen kleinen Sommersprossen, die sich wie ein Meer aus kleinen Schokostreuseln über beide Wangen und ihre zarte Nase streuten, als hätte sie jemand achtlos darauf geworfen und unbewusst ein kleines Kunstwerk erschaffen. Ihre smaragdgrünen Augen verliehen ihrem Gesicht… „Aiden?“ riss Gerda mich aus meiner Trance. Ich schüttelte mich und versuchte meine Gedanken zu sammeln: Inge…Tee…Kekse…Gerda. „Äh ja, Inge lädt dich zu Tee und Keksen ein, da du ja scheinbar nichts Besseres zu tun hast, als vor ihrem Haus zu stehen und es anzustarren.“ Bemüht setzte ich ein schelmisches Grinsen auf, welches aber nicht sonderlich wirksam war. Gerda blickte mich aus ihren großen Augen überrascht an. „Ich werde eingeladen?“ fragte sie völlig perplex. Es klang fast so, als würde sie nie irgendwelche Einladungen erhalten. Ich schob den Gedanken beiseite und antwortete: „Frag nicht warum, ich weiß es selber nicht. Kommst du jetzt oder nicht?“ Ich sah gerade noch, wie sie zögerlich nickte, bevor ich mich umdrehte und durch das Gartentor hindurchging. Ich hörte ihre kleinen Schritte hinter mir, während wir den langen Gartenweg zur Eingangstür entlangliefen. Bei der Haustür angekommen blieb ich stehen. Gerda war noch ein ganzes Stück hinter mir, anscheinend konnte sie nicht mit meinem Tempo mithalten, was mich aber nicht sonderlich interessierte. „Komm endlich!“ forderte ich sie erneut auf. „Bin ja schon da.“ fauchte sie und blieb neben mir stehen. Nach unserem kleinen Streit gestern, schien sich ihre Laune kein Stück gebessert zu haben. Ich rief mir erneut in Erinnerung, dass ich sie nicht mögen sollte und verfluchte mich selbst dafür, dass ich mich so von ihr in den Bann hab ziehen lassen. Ich drückte schwungvoll die Tür auf und trat in den Dschungel-Flur. Gerda folgte mir den Flur entlang und mir entging ihr staunender Blick nicht, mit dem sie die bunt bemalten Wände bewunderte. Innerlich musste ich grinsen, sie schien Kunst wirklich zu lieben. Halt stopp, ich musste wirklich aufhören so zu denken. Wir bogen um die Ecke und gingen direkt ins Wohnzimmer. Inge saß noch am großen Eichentisch. Ich konnte ihr altes Lächeln in der Fensterscheibe sehen. „Inge, dass ist Gerda, Gerda Inge.“ stellte ich die beiden einander vor, als wir neben dem Tisch stehen blieben. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“ sagte Gerda höflich und streckte Inge die Hand entgegen. Ich musste ein Lachen unterdrücken, diesen Fehler hätte sie nicht machen sollen. „Ich freu mich auch mein Kind.“ lächelte Inge, und griff begeistert Gerdas Hand. Mit festem Druck schüttelte sie ihre Hand und ließ sie auch dann nicht los, als sie bereits weiterredete: „Sag, mein Kind, wo kommst du her? Du magst Kunst. Bist du aus dem Osten?“ Gerda war völlig perplex und definitiv überfordert, von Inges Neugier. Zufrieden lächelnd setzte ich mich neben Inge an den Tisch, schenkte allen Tee ein, verteilte die Kekse und beobachte das Schauspiel. „Ich komme in der Tat aus dem Osten, genauer gesagt aus Parchim. Woher wussten Sie das?“ fragte Gerda. Inge ließ ihre Hand los, sodass sie sich ebenfalls setzten konnte und dieses wissende Lächeln, das sie immer trug, so als wäre es in ihrem Gesicht festgewachsen, schien Gerda Gänsehaut zu bereiten. „Viele Menschen im Osten lieben Kunst. Sie haben ein Auge für Schönheit, einen Sinn für Farben und ein Gefühl für Vollkommenheit. Ich habe es selbst erlebt. Alles was ich weiß habe ich als Kind des Ostens gelernt.“ schwärmte Inge. Gerda starrte sie überrascht an, aber nicht so überrascht, wie ich. Inge redete nie über ihre Vergangenheit, sie hat mir in all den Jahren, in denen ich Zeit mit ihr verbracht hatte, nie auch nur einmal ihre Kindheit erwähnt, geschweige denn, woher sie kommt und was sie früher gemacht hat. Umso verwirrter war ich nun, als sich herausstellte, dass sie auch von der anderen Seite kam. „Sie kommen auch aus dem Osten?“ hakte Gerda nach. „Bitte hör doch auf mich zu siezen, mein Kind, sonst fühle ich mich so edel.“ Inge tätschelte sanft Gerdas Hand. „Aber ja, ich komme aus dem Osten. Ich habe dort meine ganze Kindheit verbracht. Aber genug von mir, erzähl mir von dir. Woher kennt ihr beiden euch?“ „Ich bin vor kurzem mit meiner Familie hierhergezogen und meine Mutter ist sehr eng mit Aidens Mutter befreundet.“ „Dann hast du ja eine tolle neue Freundin, mein Lieber. Du kannst dich glücklich schätzen, dass deine Mutter solche Freunde hat.“ strahlte Inge mir entgegen. Sie war schlichtweg begeistert von Gerda, daran gab es keinerlei Zweifel. „Wir sind nicht sonderlich gut befreundet.“ antwortete ich gespielt gelangweilt, obwohl sich in mir gerade ein innerer Konflikt abspielte. Wie konnte die Person, die ich mit am meisten liebte, von der anderen Seite sein? Wie konnte überhaupt jemand von der anderen Seite ein so toller, schlauer und vor allem Selbstständiger Mensch sein, wie Inge es war? Ich konnte meine Liebe zu ihr nicht leugnen und auch nicht, dass es mich nicht im Geringsten störte, dass sie aus der DDR kam. Was mich innerlich kämpfen ließ, war, dass Gerda ebenfalls von dort war und Inge sie mochte. Inge mochte nur gute Menschen, es war gar nicht möglich, dass sie einen schlechten Menschen so begeistert behandelte. War sie vielleicht doch nicht so schlimm und naiv, wie ich dachte? „Warum nicht?“ fragte Inge und riss mich damit aus meinen Gedanken. Verwirrt blinzelte ich sie an. „Das weiß ich leider auch nicht, ich glaube er findet die Tatsache schlimm, dass ich nicht von hier bin.“ antwortete Gerda für mich. Inge sah mich verwirrt an. „Wirklich Aiden?“ Ich zuckte innerlich zusammen. Sie hatte mich schon ewig nicht mehr nur mit meinem Namen angesprochen. „Ähm, nein, natürlich nicht. Es hat sich einfach noch nicht ergeben.“ sagte ich schnell, und wechselte dann das Thema. „Will noch jemand Kekse? Ich hole mal noch welche.“ Mit diesen Worten floh ich in die Küche. Dort stützte ich mich auf dem pinken Küchentresen ab und versuchte meine Gedanken zu sortieren. Eins war definitiv klar: Egal von wo Inge kam, wo sie gelebt hat oder was sie getan hat, ich könnte niemals aufhören, sie zu lieben, für alles was sie für mich getan hat und für so vieles mehr. Was mich innerlich gerade fertigmachte war, dass ich die DDR jetzt nicht mehr als Grund nutzen konnte, um Gerda zu hassen. Ich brauchte einen Neuen. Brauchte ich einen Neuen? Wollte ich sie hassen? Ich schüttelte meinen Kopf, als ob ich mir aussuchen könnte, ob ich sie mochte oder nicht. Natürlich mochte ich sie nicht. Also brauchte ich doch einen Grund, irgendwas. Angestrengt dachte ich nach, doch mir wollte nichts einfallen. Gerda war, auch wenn es mir widerstrebte das zuzugeben, ziemlich hübsch und klug und sie konnte unglaublich schön singen. Ernsthaft, wer auch immer ihr diese Stimme geschenkt hat, musste eine große Schuld bei ihr zu begleichen gehabt haben.                                                              Verärgert kniff ich mir in den Arm, jetzt war nicht der Moment um über Gerdas Stimme nachzudenken. Ich schnappte mir die Dose mit den restlichen Keksen und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Es brachte ja doch nichts, über die ganze mag-ich-sie-oder-mag-ich-sie-nicht Thematik nachzudenken. Vorsichtig stellte ich die Dose auf den Tisch und setzte mich wieder. Genau in diesem Moment stand Gerda auf und verkündete: „Ich werde mal besser gehen, es ist schon ziemlich spät und ich muss noch ein paar Schulsachen erledigen. Es hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen, Inge. Vielen Dank für den Kuchen und die Kekse.“ Noch während sie sprach überzog ein wunderschönes, breites Lächeln ihr Gesicht und sie umarmte Inge. „Ich habe mich auch gefreut, dass du eine Weile geblieben bist, mein Kind. Komm doch mal wieder vorbei, meine Tür steht dir immer offen.“ Das Grinsen auf Inges Gesicht war nicht zu übersehen und ich konnte nicht anders, als mich für die zu freuen. „Tschüss Aiden. Bis morgen in der Schule.“ verabschiedete Gerda sich nun auch von mir. Ich nickte ihr kurz zu, zwang ein Lächeln auf mein Gesicht, es kam einfacher als erwartet, und sah ihr nach, wie sie um die Ecke im Flur verschwand.   Nachdem die Haustür ins Schloss gefallen war, griff Inge nach meiner Hand. Ich sah sie fragend an. „Sie ist echt nett, mein Lieber, du solltest ihr eine Chance geben. Ich kann spüren, dass du sie magst.“ Ein schelmisches Grinsen zog über ihre Lippen. Ich schüttelte kurz den Kopf, bevor ich meine Hand wegzog und sagte: „Ich gehe jetzt auch lieber mal, Mom wartet bestimmt schon auf mich. Falls du noch irgendetwas brauchst, ruf mich an, ok?“ Inge nickte, immer noch grinsend und ich beeilte mich, aus diesem Haus raus zu kommen.                                    
Ich lief die Straße runter, in Richtung meines Hauses und die letzten Worte Inges hallten unaufhörlich in meinem Kopf wieder „Ich kann spüren, dass du sie magst.“  Mochte ich Gerda? Neein, unmöglich … oder?

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